Streitpunkt “Lebensakte” – Lichtblicke am Gerichtshimmel
Die Beiziehung von sog. “Lebensakten” oder auch Wartungsunterlagen in Bußgeldverfahren gehört aus Verteidigersicht zu den zwingenden Voraussetzungen einer umfassenden Prüfung in einem Bußgeldverfahren.
Doch Streit zwischen Anwälten und Bußgeldstellen sowie dann im weiteren Verfahren mit den Gerichten hierüber hat Tradition. Viele Bußgeldstellen verweigern die Bereitstellung sowie Herausgabe dieser Unterlagen (es muss nicht immer eine sog. “Lebensakte”). Auch wird immer wieder von den Bußgeldstellen betont, dass das Führen von “Lebensakten” nicht vorgeschrieben sei.
Auch war (und ist) es (bisher) von der Verfahrensstrategie sehr aufwändig, im Falle einer Ablehnung durch die Behörden und Gerichte dieses Recht durchzusetzen. In aller Regel bedarf es (jedenfalls bislang) des Antrages auf gerichtliche Entscheidung oder eben des Versuchs, die Ablehnung in einem nachfolgenden Rechtsbeschwerdeverfahren zu monieren.
Nun aber gibt es wirkliche Lichtblicke zu dieser Fragestellung, denn die ersten Oberlandesgerichte haben hier die Rechte der Betroffenen und deren Anwälte gestärkt. Zuvor hatten schon einzelne (aber eben auch nur einzelne) Amtsgerichte die Bußgeldstellen in die Schranken verwiesen. Wesentlich und eben sehr erfreulich sind aktuell die Aussagen der OLG Jena und Brandenburg. Die wesentlichen Aussagen ergeben sich aus folgenden Leitsätzen und (gekürzten) Urteilsgründen:
OLG Brandenburg, Beschluss vom 08.09.2016, (2 B) 53 Ss – OWI 343/16 (163/16)
1. Die Verwaltungsbehörde muss gem. § 31 Abs. 4 MessEG Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe am Messgerät aufbewahren.
2. Verweigert die Verwaltungsbehörde und sodann das Gericht die vom Verteidiger jeweils beantragte Einsichtnahme in diese Nachweise, liegt hierin ein mit der Rüge nach § 338 Nr. 8 StPO geltend zu machender Verstoß gegen das faire Verfahren, ohne dass der Betroffene auf einen aussichtslos erscheinenden Antrag nach § 62 OWiG oder weitere Bemühungen um Einsichtnahme bei der Verwaltungsbehörde während des Rechtsbeschwerdeverfahrens verwiesen werden kann.
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Der Anspruch eines Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegt im Grundsatz vor, wenn dem Betroffenen keine Möglichkeit eingeräumt wurde, sich zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern (vgl. Seitz in Göhler, OWiG, 16. Aufl., § 80 Rn. 16 a) oder das Gericht entscheidungserhebliches Vorbringen des Betroffenen nicht zur Kenntnis genommen hat. Das ist hier nicht der Fall. Hier geht es vielmehr erst darum, ob überhaupt Entscheidungserhebliches vorgebracht werden kann.
Auch hat das Amtsgericht nicht seine Aufklärungspflicht im eigentlichen Sinne verletzt. Zu Recht ist es von einem standardisierten Messverfahren ausgegangen, so dass es weiterer Aufklärung ohne Vorliegen konkreter Zweifel an der Richtigkeit der Messung nicht bedurfte. Dabei ist nichts dafür ersichtlich, dass es sich insoweit zur Beiziehung der von dem Betroffenen begehrten Unterlagen gedrängt sehen musste.
Das Amtsgericht hat jedoch gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen.
(und weiter)
Die Verwaltungsbehörde hat dem Betroffenen bereits im Vorverfahren den Zugang zu Informationen verwehrt, die für seine Verteidigung in dem vorliegenden Verfahren von Bedeutung sein konnten. Zwar war die Verwaltungsbehörde nicht verpflichtet, eine Lebensakte für das hier zum Einsatz gekommene Messgerät zu führen. Sie hatte allerdings gemäß § 31 Abs. 4 des Mess- und Eichgesetzes (MessEG) Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe am Messgerät aufzubewahren. Mit der Verweigerung, diese Unterlagen der Verteidigung zugänglich zu machen, hat die Verwaltungsbehörde der Verteidigung die Möglichkeit genommen, konkrete Anhaltspunkte für eine der Gültigkeit der Eichung entgegenstehende Reparatur oder einen sonstigen Eingriff in das Messgerät aufzufinden (OLG Jena NJW 2016, 1457). Diesem Fehler der Behörde hätte das Amtsgericht abhelfen müssen, indem es der Verteidigung die bezeichneten Unterlagen zur Verfügung stellte.
Dem kann hier nicht entgegengehalten werden, dass der Betroffene nicht zuvor eine gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG herbeigeführt hat. Es spricht bereits viel dafür, dass ihm dieser Weg aufgrund der ohnehin ungewissen Erfolgsaussichten eines solchen Antrages von vornherein nicht zuzumuten war (vgl. dazu OLG Jena a.a.O.).
OLG Jena, Beschluss vom 01.03.2016, 2 OLG 101 Ss Rs 131/15
Da die Verwaltungsbehörde dem Betroffenen mithin den Zugang zu tatvorwurfrelevanten Informationen verwehrte hatte, hätte das Gericht dies auf entsprechenden Antrag nachholen müssen. Indem das Amtsgericht den in der Hauptverhandlung gestellten Antrag auf Beiziehung der Lebensakte unter Hinweis auf einen fehlenden Grund zu Zweifeln am Fortbestand einer gültigen Eichung infolge eichrelevanter Reparaturen zurückwies, verletzte es seine Aufklärungspflicht (§§ 244 Abs. 2 StPO, 71, Abs. 1 OWiG) und das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren.
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Die hier vertretene Auffassung führt auch nicht zu einer dem Charakter des Bußgeldverfahrens als Masseverfahren zuwiderlaufenden Behinderung. Soweit sich die Verwaltungsbehörden nicht ohnehin binnen kurzer Zeit auf diese Rechtsprechung einstellen und bei Anträgen auf Einsicht in die Geräteunterlagen (nach Wahl der Behörden in ihren Räumen oder durch Versendung von Kopien oder Auszügen) großzügiger verfahren, werden die Amtsgerichte in Fällen wie dem Vorliegenden einer sonst notwendig werdenden Aussetzung der Hauptverhandlung unschwer dadurch vorbeugen können, dass sie bei einem aus der Akte ersichtlichen erfolglosen Einsichtsbemühen des Verteidigers rechtzeitig selbst bei der Verwaltungsbehörde die gewünschten Unterlagen zum Messgerät anfordern, zur Akte nehmen und den Verteidiger hierüber informieren.
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Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft kann dem Betroffenen auch nicht im Rahmen der Zulässigkeit der diesbezüglichen Verfahrensrüge entgegengehalten werden, dass er sich nicht während des Laufs der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist erneut um Einsichtnahme in die Lebensakte bei der Verwaltungsbehörde bemüht habe. In Anbetracht der früheren Reaktionen der Verwaltungsbehörde auf entsprechende Gesuche musste ein solches Unterfangen völlig aussichtslos erscheinen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Entscheidung des
OLG Naumburg, Beschluss vom 09.12.2015, 2 WS 221/15
Allerdings ist entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht ohne weitere Ermittlungen davon auszugehen, die hier vorgenommene Messung sei in einem standardisierten Verfahren gewonnen worden. Allein die Tatsache, dass die Eichsiegel bei der Messung unversehrt waren, macht die Prüfung, ob an dem Gerät nach der Eichung Reparaturen vorgenommen worden sind, nicht entbehrlich (vgl. Krumm, Fahrverbot in Bußgeldsachen, 3. Aufl., Rn 100 zu § 5). Dem Amtsgericht ist auch darin zuzustimmen, dass die Frage, ob und wenn ja, welche Reparaturen nach der Eichung an dem Messgerät durchgeführt worden sind, jedenfalls dann nicht offen bleiben kann, wenn der Betroffene bzw. der Verteidiger insoweit Aufklärung für erforderlich halten.
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Die Firma G. GmbH ist gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 4 Mess- und Eichgesetz verpflichtet, Nachweise über Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe am Messgerät herzustellen und aufzubewahren. Das muss nicht in einer Lebensakte geschehen, sondern kann auf andere Weise erfolgen. Selbst wenn die Firma entgegen dieser Verpflichtung keine entsprechenden Unterlagen hergestellt und aufbewahrt hat, ist zu erwarten, dass entsprechende Vorgänge in anderer Weise dokumentiert sind.
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Entschließen sich die Überwachungsbehörden, Private bzw. Geräte Privater für Verkehrsüberwachungen heranzuziehen, liegt es nahe, eine Beauftragung von der ordnungsgemäßen Dokumentation von Reparaturen etc. an den Geräten abhängig zu machen. Der bloße Verweis auf die Unversehrtheit der Sicherungsmarken reicht jedenfalls nicht aus.