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Dieser Beitrag besteht aus 2 Teilen (beide findet ihr auch hier in unserem Newsbereich).
Übersicht (Teil 2) mit Unfallkonstellationen:
21. Fahrbahnverengung – einseitig und beidseitig
22. Alles rund um die Einbahnstraße
23. Unfall KFZ vs. Fahrrad
24. Unfälle im Zusammenhang mit der Lichtzeichenanlage (Ampel)
25. “Rund” um und im Kreisverkehr
26. Die Ampel im Fokus
27. Kreuzungsräumer-Fälle
(weitere folgen hier nach und nach)
Und los geht es:
21. Fahrbahnverengung – einseitig und beidseitig
BGH, Urteil vom 08.03.2022, VI ZR 47/21
Bei einer beidseitigen Fahrbahnverengung (Gefahrenzeichen 120 nach Anlage 1 zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO) gilt das Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme (§ 1 StVO). Ein regelhafter Vorrang eines der beiden bisherigen Fahrstreifen besteht nicht.
Im Falle der Verengung von zuvor zwei auf nunmehr nur noch einen Fahrstreifen gibt es – anders als beim Zeichen 121 (“Einseitig verengte Fahrbahn”) – nicht einen durchgehenden und einen endenden Fahrstreifen, sondern beide Fahrstreifen werden in einen Fahrstreifen überführt. Das Durchfahren der Engstelle ist daher für sich genommen nicht mit einem Fahrstreifenwechsel im Sinne des § 7 Abs. 5 StVO verbunden; auch greift das Reißverschlussverfahren des § 7 Abs. 4 StVO nicht unmittelbar. Die in der Verengung liegende und durch das Zeichen 120 signalisierte Gefahr führt jedoch zu einer erhöhten Sorgfalts- und Rücksichtnahmepflicht der auf beiden Fahrstreifen auf die Engstelle zufahrenden Verkehrsteilnehmer im Sinne des § 1, § 3 Abs. 1 StVO…
Nichts anderes gilt auch dann, wenn beide Fahrzeuge gleichauf und mit gleicher Geschwindigkeit an die Engstelle gelangen. Auch in diesem Fall gebührt dem rechts fahrenden Fahrzeug nicht regelhaft der Vortritt.
Das Gefahrenzeichen 120 enthält eine derartige Vorrangregelung nicht.
22. Alles rund um die Einbahnstraße
BGH, Urteil vom 10.10.2023, VI ZR 287/22
Rückwärtsfahren in Einbahnstraße
a) Das Vorschriftszeichen 220 in Verbindung mit § 41 Abs. 1 StVO gebietet, dass die Einbahnstraße nur in vorgeschriebener Fahrtrichtung befahren werden darf. Verboten ist auch das Rückwärtsfahren entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung.
Lediglich (unmittelbares) Rückwärtseinparken (“Rangieren”) ist – ebenso wie Rückwärtseinfahren aus einem Grundstück auf die Straße – kein unzulässiges Rückwärtsfahren auf Richtungsfahrbahnen gegen die Fahrtrichtung.
b) Zur Anwendung des Anscheinsbeweises bei einem Verkehrsunfall (hier: Zusammenstoß eines aus einer Grundstückszufahrt auf eine Einbahnstraße einfahrenden Fahrzeugs mit einem auf der Einbahnstraße unzulässig rückwärts fahrenden Fahrzeug).
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts spricht kein Anscheinsbeweis für einen schuldhaften Verstoß des Klägers gegen § 9 Abs. 5 , § 10 Satz 1 StVO .
Zwar kann bei einem Unfall im Zusammenhang mit dem Rückwärtseinfahren aus einem Grundstück auf eine Straße grundsätzlich der erste Anschein dafür sprechen, dass der rückwärts Einfahrende seinen Sorgfaltspflichten nicht nachkam und den Unfall dadurch (mit)verursachte. Jedoch liegt hier die für die Anwendung des Anscheinsbeweises erforderliche Typizität schon deshalb nicht vor, weil die Beklagte zu 1 die Einbahnstraße in unzulässiger Weise rückwärts befuhr. Es existiert kein Erfahrungssatz, wonach sich der Schluss aufdrängt, dass unter diesen Umständen den rückwärts aus der Grundstückszufahrt auf die Einbahnstraße einfahrenden Kläger ein Verschulden trifft (vgl. OLG Köln,VersR 1992, 332, 333; Freymann in Geigel, Haftpflichtprozess 28. Aufl., Kap. 27 Rn. 319; siehe weiter OLG Düsseldorf, Urteil vom 15. Mai 2012 – 1 U 127/11, juris Rn. 37 f.; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht 47. Aufl., § 10 StVO Rn. 11 f.; Scholten, ZfSch 2022, 252).
Hinweis: Der BGH hat den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. In dem Zusammenhang ist dann aber noch folgende Ergänzung des BGH in den Entscheidungsgründen von Bedeutung:
Bei der Prüfung eines Verstoßes des Klägers gegen § 9 Abs. 5 , § 10 Satz 1 StVO wird zu berücksichtigen sein, dass er grundsätzlich nicht mit Teilnehmern des fließenden Verkehrs auf der Einbahnstraße rechnen musste, die diese in unzulässiger Richtung nutzten. Dies wäre nur der Fall gewesen, wenn besondere Umstände vorgelegen hätten (vgl. Senatsurteil vom 6. Oktober 1981 – VI ZR 296/79 , NJW 1982, 334, juris Rn. 14).
LG Wuppertal, Urteil vom 30.6.2022 – 9 S 48/22
Zur Frage, wann sich der eine Einbahnstraße entgegen der erlaubten Fahrtrichtung befahrende Kfz-Führer auf den Grundsatz rechts-vor-links berufen kann.
Dem Vorfahrtsrecht der Beklagten steht im Entscheidungsfall nicht entgegen, dass sie eine Einbahnstraße in verbotener Richtung befahren haben.
Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile wiegt der dem Kläger zuzurechnende Sorgfaltsverstoß jedenfalls nicht weniger als die Verkehrswidrigkeit der Beklagten zu 2). Kommt der Vorfahrtberechtigte aus einer für ihn gesperrten Straße (ohne deshalb sein Vorfahrtrecht verloren zu haben), unterliegt er zwar einer besonderen Sorgfaltspflicht, sodass bei einem Zusammenstoß in der Regel von seiner Mithaftung auszugehen sein wird, die nach den Umständen des Einzelfalles (z.B. Art der gesperrten Straße) zu bestimmen ist (Grüneberg Haftungsquoten, A. Unfälle zwischen Kfz und Kfz Rn. 49, beck-online). Der Verkehrsverstoß der Beklagtenseite wiegt ausweislich des Bußgeldkataloges (25 € ohne und 35 € mit Sachbeschädigung) objektiv nicht schwerer als der Vorfahrtverstoß auf Klägerseite. Vielmehr ist bei Verletzung der Rechts-vor-links-Regel mit Sachbeschädigung ein Bußgeld von 120 € sowie ein Punkt vorgesehen. Deshalb wird der Kläger durch eine Haftungsverteilung von 50/50 nach Auffassung der Kammer nicht benachteiligt. Sie wird von der Kammer auch letztlich als angemessen angesehen.
Quelle: Beck-Verlag / BeckRS 2022, 19796, beck-online
23. Unfall KFZ vs. Fahrrad
OLG Hamm, Beschluss vom 02.01.2018 – I-7 U 44/17
Bei der Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge tritt die einfache Betriebsgefahr eines PKW hinter einem für den Unfall ursächlichen Vorfahrtsverstoß des verunfallten Fahrradfahrers vollständig zurück.
Quelle → Volltext / URTEIL / OLG HAMM
24. Unfälle im Zusammenhang mit der Lichtzeichenanlage
OLG Saarbrücken, Urteil vom 21.04.2023 – 3 U 11/23
Überragende Bedeutung einer Kreuzungs-Ampel für die Schuld- und Haftungsfrage
Der Verkehrsregelung durch eine Lichtzeichenanlage an einer Kreuzung oder Einmündung kommt eine so erhebliche Bedeutung zu, dass die Betriebsgefahr sowie im Einzelfall auch ein geringfügiges Verschulden des bei Grünlicht in den geschützten Kreuzungs-/Einmündungsbereich Einfahrenden hinter den Rotlichtverstoß des Unfallgegners zurücktritt.
Quelle → DIREKT zum VOLLTEXT
25. “Rund” um und im Kreisverkehr
OLG Koblenz, Beschluss vom 22.09.2022 – 12 U 917/22
Vorfahrtsrecht bei Einfahrt in einen “kleinen” Kreisverkehr
1. Ist ein Kreisverkehr an der Einmündung in den Kreis mit den beiden Verkehrszeichen 205 (Vorfahrt gewähren) und 215 (Kreisverkehr) versehen, ist derjenige als vorfahrtsberechtigt anzusehen, der als Erster die Zeichen passiert hat und in den Kreisverkehr eingefahren ist; ein vollständiges Einfahren in den Kreisverkehr ist für die Begründung des Vorfahrtsrechts nicht erforderlich.
2. Der danach Vorfahrtsberechtigte ist auch nicht gehalten, nach dem Einfahren in den Kreisel nochmals eine Blickzuwendung nach links vorzunehmen (und bei Erkennen eines sich von dort mit überhöhter Geschwindigkeit nähernden Fahrzeugs zur Vermeidung einer Kollision eine „Notbremsung“ vorzunehmen), sondern darf sich darauf verlassen, dass noch nicht in den Kreisverkehr eingefahrene Fahrzeuge sein bestehendes Vorfahrtsrecht beachten werden.
Quelle: BeckRS 2022, 24717 / beck-online
26. Die Ampel im Fokus
OLG Saarbrücken, Urteil vom 21.04.2023, 3 U 11/23
Der Verkehrsregelung durch eine Lichtzeichenanlage an einer Kreuzung oder Einmündung kommt eine so erhebliche Bedeutung zu, dass die Betriebsgefahr sowie im Einzelfall auch ein geringfügiges Verschulden des bei Grünlicht in den geschützten Kreuzungs-/Einmündungsbereich Einfahrenden hinter den Rotlichtverstoß des Unfallgegners zurücktritt.
27. Kreuzungsräumer-Fälle (Nachzügler)
Ausgangslage:
Fahrzeug 1 fährt bei Grünlicht in die Kreuzung ein, kann diese aber – z.B. wegen Rückstaus – noch nicht vollständig überqueren (sog. Nachzügler). Fahrzeug 2 bekommt nun selber Grünlicht, fährt in die Kreuzung ein und kollidiert mit dem sich noch im Kreuzungsbereich befindlichen und diesen noch nicht “geräumten” Fahrzeug 1. Die Haftungsentscheidung hängt vom Einzelfall ab, natürlich auch von der jeweiligen Kollisionskonstellation (wer ist wo beschädigt) und auch der Dauer, wie lange der Kreuzungsräumer auf der Kreuzung verblieben ist. Im ersten Ansatz geht die Haftung oft zulasten des Fahrzeugs 2 (2/3), aber es ist je nach Situation vom 100 zu 0 bis 0 zu 100 alles drin. Erst einmal gilt der Vorrang des noch räumenden Verkehrs…
Dann mal hier ein erster Überblick über die Gemengelage und den bunten Strauß an Einzelfall-Entscheidungen:
BGH, Urteil vom 11.05.1971, VI ZR 11/70
Rücksichtnahme auf Nachzügler bei Einfahrt in Kreuzung; Sorgfaltspflichten des Nachzüglers
Die Regel, dass ein Kraftfahrer, der bei Grünlicht in eine Kreuzung einfahren will, zunächst dem in der Kreuzung “hängengebliebenen” Querverkehr die Möglichkeit geben muss, die Kreuzung zu verlassen, gilt auch dann, wenn die Fahrbahnen einer der sich kreuzenden Straßen durch einen im Kreuzungsbereich unterbrochenen Grünstreifen (hier von 3 m Breite) getrennt sind und der kreuzende Verkehr (insbesondere Linksabbieger) den Bereich der Unterbrechung des Mittelstreifens freizumachen hat. Andererseits darf der in der Kreuzung aufgehaltene Nachzügler sein Recht zur Weiterfahrt nicht erzwingen. Er muss sich vorsichtig verhalten und darf nicht blindlings darauf vertrauen, dass er vorgelassen werde.
Der erkennende Senat hat demgemäß schon in seinem Urteil v. 14. 4. 1961 (… NJW 61, 1576 L) entschieden, daß ein Kraftfahrer, der bei Einsetzen des grünen Lichtes in eine Kreuzung einfahren will, Verkehrsteilnehmern, die noch in der Kreuzung sind, zunächst die Möglichkeit geben muß, die Kreuzung zu räumen (vgl. auch das Urteil des BGH v. 20. 12. 1967 – 4 StR 382/67 – VRS 34, 358). Dieser Grundsatz ist allgemein anerkannt (vgl. Jagusch, Straßenverkehrsrecht, 18. Aufl., § 2 StVO a.F. Anm. 4 und 19. Aufl., § 37 StVO n.F. Anm. 2 a und die dort angeführte Rechtsprechung).
Haftungsentscheidung 2/3 zugunsten des hängengebliebenen “Nachzüglers”
Quelle: NJW 1971, 1407
KG Berlin, Beschluss vom 08.09.2008 – 12 U 194/08
Je länger ein Kreuzungsräumer auf der Kreuzung verharrt, wird dieser beachten müssen, dass der übrige Verkehr daraus schließen kann, er werde nicht weiterfahren Ein solcher Kreuzungsräumer darf nicht an- oder weiterfahren, ohne sich vergewissert zu haben, dass ein Zusammenstoß mit einfahrenden Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist (vgl. BGHZ 56, 146 = NJW 1971, 1407, 1409). Fährt der Kreuzungsräumer in dieser Situation unbedacht an, kann dies zu einer Abweichung von der Regelhaftung des Kreuzungsräumer von 1/3 führen (vgl. Senat, Urteil vom 6. Oktober 1977 – 12 U 767/77 – DAR 1978, 48, Urteil vom 26. Oktober 1992 – 12 U 5056/91 – VM 1993, 35 Nr.50); das gilt vor allem dann, wenn der Teilnehmer des Querverkehrs sich sicher sein konnte, dass der hängen gebliebene Kreuzungsräumer ihm die Vorfahrt lassen werde.
Haftungsentscheidung hier aber voll zulasten des hängengebliebenen Nachzüglers (haftet zu 100 %)
KG Berlin, Urteil v. 13.11.2003, 12 U 43/02
1. Die Freigabe der Kreuzungseinfahrt durch grünes Ampellicht entbindet den Fahrer nicht von der Pflicht, die Einfahrt in die Kreuzung zurückzustellen, wenn dies die Verkehrslage erfordert, insbesondere wenn in früherer Ampelphase eingefahrene Nachzügler sich noch im Kreuzungsbereich befinden, denen zunächst im Interesse des fließenden Verkehrs die Räumung der Kreuzung zu ermöglichen ist; dies gilt auch für den nach links abbiegenden Querverkehr, der in früherer Ampelphase eingefahren war (KG, VM 1983, 84).
2. Hat der in die Kreuzung Einfahrende das Anfahren des Kreuzungsräumers tatsächlich erkannt und fährt er dennoch unter Berufung auf das grüne Ampellicht selbst an, so trifft ihn im Falle der Kollision – abweichend von der Regelquote von 2/3 zu seinen Lasten – die volle Haftung.
Ergebnis hier nun: Der hängengebliebene Nachzügler bekommt 100 % zugesprochen.
Quelle: NZV 2004, 574
OLG Hamm, Urteil vom 26.08.2016, 7 U 22/16
Nachzügler, Nachzüglervorrang, fliegender Start, Querverkehr,
Je weiter der Farbwechsel der Lichtzeichenanlage auf “grün” zurückliegt, umso mehr darf der bei “grün” Durchfahrende auf eine freie Kreuzung ohne Nachzügler aus dem Querverkehr der vorhergehenden Ampelphase vertrauen.
Aufgrund dieser langen Verweildauer war die Beklagte zu 2) zu erhöhter Aufmerksamkeit verpflichtet. Hiergegen hat die Beklagte zu 2) in erheblichem Ausmaß verstoßen, indem sie plötzlich zügig losfuhr, ohne auf das herannahende Klägerfahrzeug zu achten … nach Angaben der Zeugin übrigens “sehr zügig” angefahren.
Haftungsentscheidung hier 2/3 zulasten des hängengebliebenen Nachzüglers
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