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OLG Saarbrücken vom 08.05.2023 – 1 Ss-OWi 8/23
Auch bei einer nicht geringfügigen Ordnungswidrigkeit im Sinne des § 17 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 OWiG sind bei Verhängung der Regelgeldbuße in der Regel keine näheren Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen erforderlich.
OLG Brandenburg, Beschluss vom 19.12.2022 – 1 OLG 53 Ss-OWi 582/22
Anforderungen an Verwertung eines Lichtbildes im Urteil zur Identifizierung des Fahrers
Die tatrichterlichen Feststellungen zur Identifizierung eines Betroffenen als Fahrzeugführer müssen nach Angaben des Oberlandesgerichts Brandenburg eine ausführliche Beschreibung des Lichtbildes nach Inhalt und Qualität enthalten, wenn es an einer Bezugnahme nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO fehlt.
Quelle: FD-StrVR 2023, 455438, beck-online
BayObLG, Beschluss vom 13.12.2022 – 202 ObOWi 1458/22
Bestreiten eines Tatvorwurfs ist keine bußgelderhöhende “uneinsichtige Haltung”
Zulässiges Verteidigungsverhalten eines Betroffenen, wie etwa das Bestreiten des Tatvorwurfs, darf bei der Bemessung der Rechtsfolgen nicht zu seinem Nachteil gewertet werden.
Einem Betroffenen, der den Tatvorwurf bestreitet, darf bei der Bemessung der Bußgeldhöhe eine „uneinsichtige Haltung“ nicht angelastet werden.
OLG Hamburg, Beschluss vom 24.11.2022 – 5 RB 22/22
Entschuldigtes Fernbleiben von der Hauptverhandlung bei nicht beschiedenem Antrag
Der Anspruch eines Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist auch dann verletzt und sein Ausbleiben in der Hauptverhandlung somit als entschuldigt anzusehen, wenn
ein Antrag gemäß § 73 Abs. 2 OWiG (Antrag auf Entbindung von der Anwesenheitsverpflichtung des des Betroffenen in der Hauptverhandlung) nicht beschieden wurde
und dem Antrag hätte entsprochen werden müssen
(vgl. nur OLG Bamberg, Beschuss . ; , Beschluss vom 27.04.2011 – 2 Ss (OWi) 50-11 I 63/11; , Beschluss vom 13.02.2020 – (2B) 53 Ss-OWi 755-19; , Beschluss vom 12.01.2018 – 2 RB 8 Ss 839/17, , Beschluss vom 15.04.2019 – 202 ObOWi 400/19). Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Antrag bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung tatsächlich zur Kenntnis des Gerichts gelangt ist (BayObLG, a.a.O., , Beschluss vom 23.05.2017 – 3 Ss OWi 654/17).
Quelle: Beck-Verlag / FD-StrVR 2022, 454788
dazu dann
vom 27.04.2011 – 2 Ss (OWi) 50-11 I 63/11
Fehlerhaftes Verwerfungsurteil bei übergangenem/übersehenem Entbindungsantrag
Die Erklärung des Betroffenen, er “wolle” nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen, kann als Entbindungsantrag auszulegen sein.
Die Nichtbescheidung eines solchen Entbindungsantrags steht regelmäßig dem Erlass eines Verwerfungsurteils nach § 74 Abs. 2 OWiG entgegen und kann mit der Gehörsrüge sowohl das Zulassungsverfahren als auch die Rechtsbeschwerde begründen.
Volltext → OLG Rostock / 27.04.2011 / 2 Ss (OWi) 50/11 I 63/11
BayObLG, Beschluss vom 21.11.2022 – 201 ObOWi 1291/22
Anforderungen an freisprechendes Urteil bei Abweichung von Bedienungsanleitung – (kein) standardisiertes Messverfahren?
1. Wird bei der Durchführung einer amtlichen Geschwindigkeitsmessung von den Vorgaben der Bedienungsanleitung des Geräteherstellers abgewichen, gibt dies Anlass zu der Überprüfung, ob das erzielte Messergebnis den Vorgaben eines sog. standardisierten Messverfahrens entspricht.
2. Abweichungen von Vorgaben der Bedienungsanleitung des Geräteherstellers vermögen das Vorliegen eines sog. standardisierten Messverfahrens jedenfalls dann nicht in Frage zu stellen, wenn die Möglichkeit einer fehlerhaften Messung ausgeschlossen ist.
Quelle → DIREKTLINK / VOLLTEXT
Hinweis: Messverfahren hier PoliScan Speed und um folgende technische Aspekte ging es (aus den Gründen):
… Danach soll es entscheidend darauf ankommen, ob das Messgerät während der konkreten Einzelmessung merklich verstellt worden ist, sich also während der Messung nicht in Ruhe befunden hat (worüber ein Vergleich der Messung des Betroffenen gemäß Bild Nr. 62 mit der unmittelbar vorangegangenen Messung gemäß Bild Nr. 61 Aufschluss geben könnte), oder ob Verstellungen durch das Messpersonal während der laufenden Messreihe erfolgt sind, sich das Messgerät aber während der konkreten Einzelmessung in einer gleichbleibenden Position befunden hat. In dieser Stellungnahme wird weiter darauf hingewiesen, dass eine geringfügige Winkelverstellung, wie sie sich typischerweise durch das Einfedern eines Messfahrzeugs, Windböen beim Stativbetrieb oder Vibrationen bei Messungen auf Brücken, die gerade von schweren LKW oder Straßenbahnen befahren werden, ergeben, zu den normalen Betriebsbedingungen gehören und nicht als Verstellung einzustufen sind.
LG Wuppertal, Beschl. vom 11.11.2022 – 26 Qs 230/22
Das ist und bleibt Euer gutes Recht – Vertretung eines Verteidigers Eures Vertrauens auch in einem Bußgeldverfahren
Aus den Gründen:
Auch in einem Bußgeldverfahren hat der Betroffene regelmäßig das Recht, sich durch einen Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu lassen. Diese Gewährleistung ist Ausdruck seines von Art. 20 Abs. 3 GG geschützten Anspruchs auf ein faires Verfahren (BayObLG, BeckRS 2020, 35554; OLG Brandenburg, BeckRS 2020, 35233; OLG Köln, BeckRS 2005, 13580; BayObLG, BeckRS 2001, 8950). Die Terminierung ist zwar Sache der Vorsitzenden. Die Vorsitzende ist aber gehalten, über Terminsverlegungsanträge nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles zu entscheiden (BayObLG, BeckRS 2020, 35554; OLG Brandenburg, BeckRS 2020, 35233; OLG Bamberg, Beschluss vom 04.03.2011, Az. 2 Ss OWi 209/11). In die Abwägung einzustellen sind insbesondere die Bedeutung der Sache, die Lage des Verfahrens bei Eintritt des Verhinderungsfalles, der Anlass, die Voraussehbarkeit und die voraussichtliche Dauer der Verhinderung, die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage und damit zusammenhängend die Fähigkeit des Betroffenen, sich selbst zu verteidigen und das Gebot der Verfahrensbeschleunigung.
Gemessen an diesen Anforderungen leidet die Entscheidung hier an einem Ermessensfehler. Denn das Amtsgericht hat sich bei Ablehnung der Terminsverlegung maßgeblich darauf gestützt, dass der Termin bereits mehrfach verlegt worden sei und der Betroffene einen anderen Verteidiger wählen könne. Vorliegend ist der Betroffene durch den Bußgeldbescheid nicht nur mit einem Bußgeld, sondern auch mit einem Punkt im Fahreignungsregister belegt worden, was keine ganz unerhebliche Sanktion darstellt. Zudem droht dem Betroffenen hierdurch der (erneute) Verlust der Fahrerlaubnis, da er bereits mehrfach einschlägig vorbelastet ist. In dieser Lage kann dem Betroffenen nicht verwehrt werden, sich von dem Verteidiger seines Vertrauens, der ihn bereits seit längerer Zeit vertritt, vertreten zu lassen. Auch ist keine auf Prozessverschleppung ausgerichtete Verteidigungsstrategie erkennbar, da der Verteidiger ausdrücklich eine telefonische Terminsabsprache angeboten hat, das Amtsgericht diese Möglichkeit jedoch nicht in Betracht gezogen hat. Eine Verjährung droht — auch vor dem Hintergrund einer nicht näher dargelegten „angespannten Terminslage” des Amtsgerichts – ebenfalls noch nicht, da eine absolute Verjährung erst im Februar 2024 eintreten kann.
OLG Brandenburg – 27.09.2022 – 1 OLG 53 Ss-OWi 397/22
Vorsätzliche Tatbegehung bei Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit um 50 %
Auch ohne ständigen Blick auf den Tachometer seines Fahrzeugs kann im Normalfall davon ausgegangen werden, dass ein geübter Kraftfahrer, der die erlaubten 100 km/h um mehr als 50 % überschreitet, dies beispielsweise anhand der Motorengeräusche des ihm vertrauten Fahrzeugs, der sonstigen Fahrgeräusche, der Fahrzeugvibration und anhand der Schnelligkeit, mit der sich die Umgebung um ihn herum verändert, zuverlässig einschätzen und dadurch erkennen kann, dass er die erlaubte Höchstgeschwindigkeit erheblich überschreitet (BGH NJW 1993, 3081, 3084 m. w. N.).
Quelle → VOLLTEXT / Landesrecht Brandenburg
OLG Oldenburg vom 20.09.2022 – 2 Ss(OWi) 137/22
Die Rettungsgasse ist zu bilden “sobald Fahrzeuge… mit Schrittgeschwindigkeit fahren oder sich die Fahrzeuge im Stillstand befinden.”
Soweit das Amtsgericht Tübingen (DAR 2021, 406) die Auffassung vertreten hat, der Verstoß gegen § 11 Abs. 2 StVO setze eine gewisse zeitliche Komponente des Stillstandes oder der Schrittgeschwindigkeit voraus, teilt der Senat diese Auffassung nicht. Der Wortlaut des §11 Abs. 2 StVO ist eindeutig. Laut duden.de bedeutet das Wort sobald “in dem Augenblick, da…” bzw. “gleich wenn”. Damit wird hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass eine Überlegungsfrist nicht besteht, die Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse vielmehr sofort eingreift, nachdem die in § 11 Abs. 2 StVO beschriebene Verkehrssituation eingetreten ist.
Dies gilt hier umso mehr, als der Betroffene wegen des stop-and-go–Verkehrs damit rechnen musste, dass die Phasen des Stillstandes auch länger andauern könnten. Würde man einem Fahrzeugführer, in einer Situation, in der der vor ihm befindliche Verkehr zum Erliegen gekommen ist, eine Überlegungsfrist zubilligen, während derer er zunächst noch die Rettungsgasse blockieren dürfte, hätte dies zur Konsequenz, dass er nach Erkennen der Verkehrssituation und Ablauf einer Überlegungsfrist erst noch möglicherweise zeitaufwendig rangieren müsste, um die Rettungsgasse freizugeben. Eine solches Rangiermanöver – dort mit Behinderung des Einsatzfahrzeuges – war im Übrigen bereits Gegenstand der Entscheidung des Senats 2 Ss (OWi) 34/22.
AG Herne, Beschl. v. 15.8.2022 – 22 OWi 140/22 (b)
Übersendung des Verwarnangebotes – aber rechtzeitig bitte
Liegen zwischen einem vorgeworfenen Parkverstoß und dem Ausdrucken und dem sich daran anschließenden Versenden des Verwarnangebots fünf Wochen, kann nicht mehr von einer umgehenden und rechtzeitigen Übersendung des Verwarnangebots ausgegangen werden.
OLG Zweibrücken vom 11.07.2022, I OWi 2 SsRs 39/22
Vorsatz vs. Fahrlässigkeit einer Geschwindigkeitsüberschreitung – hier von 22 km/h innerhalb einer Baustelle
Geht es um eine im absoluten Maß vergleichsweise niedrige Geschwindigkeitsüberschreitung – hier von 22 km/h – ist nicht ohne weiteres und stets anzunehmen, der Fahrer habe die Übertretung anhand der äußeren Kriterien (Motorengeräusche, sonstige Fahrgeräusche, Fahrzeugvibration und Schnelligkeit der Änderung in der Umgebung) zwanglos erkannt.
Bei Übertretungen von zumindest 40% der angeordneten Höchstgeschwindigkeit kann davon ausgegangen werden, dass dem Betroffenen, der die Begrenzung kennt, deren Überschreiten nicht verborgen geblieben ist (Festhaltung OLG Zweibrücken, Beschluss vom 14. April 2020 – 1 OWi 2 SsBs 8/20).
Bei einer solchermaßen erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass der Fahrer anhand der Motorengeräusche, der sonstigen Fahrgeräusche, der Fahrzeugvibration und der Schnelligkeit, mit der sich die Umgebung ändert, zuverlässig einschätzen kann, dass er die erlaubte und ihm bekannte zulässige Höchstgeschwindigkeit wesentlich überschreitet.
Die sensorisch wahrnehmbaren Merkmale eines zu schnellen Fahrens – Fahrzeugvibrationen, Motorgeräusche, Änderung der Umgebung – fallen umso geringer aus, je geringer der Abstand zwischen zugelassener und tatsächlicher Geschwindigkeit ausfällt. So ist eine Differenz zwischen erlaubter 100 km/h und tatsächlich gefahrener 140 km/h für den Fahrer weit deutlicher erkennbar, als eine Differenz zwischen 60 km/h und 84 km/h, obgleich das relative Maß der Überschreitung jeweils gleich ist. Dies gilt erst recht innerhalb einer Baustelle, bei der aufgrund von Fahrbahnunebenheiten auch bei Einhaltung der erlaubten Geschwindigkeit regelmäßig mit höheren Fahrgeräuschen zu rechnen ist.
Quelle: VOLLTEXT / OLG Zweibrücken / 1 OWi 2 SsBs 39/22
AG FFM. vom 03.06.2022 – 974 OWi 533 Js-OWi 18474/22
Mit einem SUV eine “rote Ampel” überfahren – Bauweise führt zu höherem Bußgeld
Zudem wurde die erhöhte Betriebsgefahr des verwendeten Kraftfahrzeugs bei der Bemessung der Geldbuße zu Lasten der betroffenen Person berücksichtigt. Die kastenförmige Bauweise und wegen der größeren Bodenfreiheit erhöhte Frontpartie des Fahrzeugs erhöhen bei einem SUV das Verletzungsrisiko für andere Verkehrsteilnehmer. Gegenüber einem Pkw in üblicher Bauweise liegt deshalb eine erhöhte Betriebsgefahr vor (vgl. auch OLG Hamm, Urteil vom 30.09.1996 – 6 U 63/96, NZV 1997, 230).
Aufgrund der größeren abstrakten Gefährdung durch das Tatfahrzeug stelle sich nach Auffassung des Amtsgerichts Frankfurt am Main der begangene Rotlichtverstoß gravierender als der Normalfall dar. Dies gelte insbesondere unter Beachtung der Zielsetzung des §37 StVO zu Wechsellichtzeichen, der den Schutz der querenden Verkehrsteilnehmer im Kreuzungsbereich von Lichtzeichenanlagen bei einer Kollision bezweckt.
Quelle: Pressemitteilung AG Frankfurt am Main
OLG Frankfurt a. M. vom 29.09.2022 – 3 Ss-OWi 1048/22
Keine Erhöhung der Regelgeldbuße bei einem Verstoß mit einem SUV,
denn ein Rotlichtverstoß mit einem SUV rechtfertigt allein keine Erhöhung der Geldbuße.
Quelle: VRR 2022, Heft 12, Seite 21
OLG Köln, Beschluss vom 29.04.2022, 1 RBS 97/22
Rechtsbeschwerde – die Verfahrensrüge bei der (bemängelten) Beiziehung von Messunterlagen
Wird als Behinderung der Verteidigung in einem wesentlichen Punkt beanstandet, dass Messunterlagen nicht beigezogen worden sind, bedarf es des ins Einzelne gehenden Vortrags dazu, welche Unterlagen bereits vorlagen und welche Unterlagen noch vermisst wurden.
Wenn die Rechtsbeschwerdebegründung nahezu durchgängig allgemein von „Unterlagen“, „Messunterlagen“, „Daten“ und „Auskünften“ sowie “amtlichen Unterlagen” spricht und nicht ausgeführt bzw. klargestellt wird, dass und welche speziellen Daten “vermisst” werden, ist die Verfahrensrüge nicht ordnungsgemäß erhoben.
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25.04.2022 – 2 RBs 51/22
“Was guckst Du!?” – “Einsichtnahme” des Messergebnisses im Display eines Laserhandmessgerätes ist nicht!
Der Betroffene hat nach einer Geschwindigkeitsmessung mit dem Laserhandmessgerät Riegl FG 21-P keinen Anspruch auf Einsichtnahme in das Display mit dem (noch) angezeigten Messergebnis. Das Messergebnis ist auch dann verwertbar, wenn dem Betroffenen eine solche Einsichtnahme wegen der örtlichen Gegebenheiten am Tatort (hier: Messstelle an einer Autobahn) nicht ermöglicht werden konnte.
Aus den (trotzdem lesenswerten) Gründen:
Denn ein allgemeines Recht des Betroffenen auf Anwesenheit bei polizeilichen Ermittlungshandlungen und damit auf sofortige persönliche Überprüfung des Ermittlungsergebnisses besteht nicht (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 20. August 1997, 3 Ws (B) 427/97, bei juris).
Es kann zur Förderung der Akzeptanz selbstverständlich hilfreich sein, dem Betroffenen – auf dessen Verlangen oder von Amts wegen – nach einer Messung mit dem nicht dokumentierenden Laserhandmessgerät Riegl FG 21-P Einsicht in das Display mit dem (noch) angezeigten Messergebnis zu gewähren. Ein entsprechender Anspruch des Betroffenen ist indes gesetzlich nicht vorgesehen und lässt sich auch nicht aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens herleiten. Die Verwertbarkeit des Messergebnisses hängt nicht davon ab, dass dem Betroffenen die Einsichtnahme in das Display tatsächlich ermöglicht werden konnte, was bei der Messung auf einer Autobahn in der Regel nicht der Fall ist, weil eine Rückkehr von der Anhaltestelle zum Standort des Messbeamten umständlich (je zweimal Abfahren und Auffahren) und zeitaufwendig wäre. Vorliegend befand sich der Standort des Messbeamten zudem in einer Nothaltebucht, in der die Betroffene nur im Notfall oder bei einer Panne hätte halten dürfen.
Quelle → OLG DÜSSELDORF / 25.04.2022 / 2 RBs 51/22
VGH, Beschluss vom 25.04.2022 – 11 CS 22.549
Unterbliebene Übersendung der Fotos an den Fahrzeughalter / Qualität / Einsicht in die Fotos auf andere Weise
Die schlechte Qualität der Aufnahmen ist jedenfalls kein ausreichender Grund, die Inaugenscheinnahme der Bilder zu versagen und von vornherein davon auszugehen, dass die Übersendung der Aufnahmen den Ermittlungserfolg nicht fördern kann. Insbesondere ist nicht nachvollziehbar, dass die Antragsgegnerin dies wiederholt mit der unzureichenden Qualität der Aufnahmen begründet, diese dann jedoch ihrem Ermittlungsersuchen an die Polizeinspektion M. vom 21. Juni 2021 beigefügt hat. Vereitelt die Behörde die Akteneinsicht, kann sie nicht von mangelnder Mitwirkung des Halters ausgehen (Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, § 31a StVZO Rn. 34 m.w.N.).
Allerdings rechtfertigt das Unterbleiben einer im Ordnungswidrigkeitenverfahren vom Betroffenen, vom Zeugen oder von dessen Bevollmächtigten erbetenen Übersendung der Akten dann nicht die Annahme eines Ermittlungsdefizits der Behörde, wenn der Fahrzeughalter rechtzeitig vor Ablauf der Verjährungsfrist noch auf andere Weise Einsicht in die Fotos nehmen konnte…
OLG Rostock, Beschluss vom 14.04.2022 – 21 Ss OWi 24/22
Der Beschränkung des Einspruchs auf die Rechtsfolge (§ 67 Abs. 2 OWiG) steht im Verfahren über eine nach dem Bußgeldbescheid fahrlässig begangene Ordnungswidrigkeit nicht entgegen, dass das Tatgericht bereits den rechtlichen Hinweis erteilt hat (§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO), dass eine Vorsatzverurteilung in Betracht kommt (Anschluss unter Aufgabe eigener Rechtsprechung und Fortführung: OLG Oldenburg, Beschluss vom 7. März 2016 – 2 Ss (OWi) 55/16, 2 Ss OWi 55/15; entgegen OLG Frankfurt, Beschluss vom 23. März 2016 – 2 Ss-OWi 52/16).
Aus den Gründen:
Die Beschränkung des Einspruchs gemäß § 67 Abs. 2 OWiG ist grundsätzlich zulässig. Insbesondere ist auch eine Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch in seiner Gesamtheit möglich, sofern der Bußgeldbescheid den gesetzlichen Anforderungen des § 66 Abs. 1 OWiG entspricht (allg. Meinung – vgl. statt vieler sowie m.w.N. OLG Bamberg, NStZ-RR 2008, 119; KG Berlin, NZV 2002, 466; BayObLG, NZV 2000, 50/51; OLG Oldenburg, Beschluss v. 07.03.2016, Az.: 2 Ss (OWi) 55/16, 2 Ss OWi 55/15, Rn. 7 (zitiert nach juris)). Ist dies der Fall, steht der Wirksamkeit der Beschränkung nicht entgegen, dass der Bußgeldbescheid keine Angaben zur Schuldform enthält, sofern die Verfolgungsbehörde ihrer Tatahndung – wie hier – offensichtlich die Regelsätze der Bußgeldkatalog-Verordnung (BKatV) zugrunde gelegt hat. Denn die Beträge des Bußgeldkatalogs, an den die Behörde grundsätzlich gebunden ist, gehen von fahrlässiger Begehung und gewöhnlichen Tatumständen aus (vgl. § 1 Abs. 2 BKatV).
Setzt die Verwaltungsbehörde für einen dem Katalog entsprechenden Tatbestand ohne Weiteres die dort vorgesehene Regelgeldbuße fest oder legt sie diese – wie hier – ihrer Entscheidung zugrunde, gibt sie damit zu erkennen, dass sie dem Betroffenen lediglich fahrlässiges Handeln zur Last legt. Auch das Amtsgericht hat daher in den Fällen der Beschränkung des Einspruchs auf den Rechtsfolgenausspruch von fahrlässiger Begehungsweise auszugehen und nur noch zu prüfen, welche Ahndung für das fahrlässige Verhalten tat- und schuldangemessen ist (vgl. OLG Bamberg a.a.O.; OLG Rostock, Beschluss vom 16. August 2001, Rn. 22 (zitiert nach juris)).
Dass das Amtsgericht davon ausgegangen ist, die Möglichkeit der Einspruchsbeschränkung sei schon vor der entsprechenden Erklärung für den Betroffenen dadurch entfallen, dass eine Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Verstoßes in Betracht kam und das Amtsgericht darauf bereits hingewiesen hatte, ist rechtsfehlerhaft.
Quelle → VOLLTEXT / OLG ROSTOCK / 14.04.2022 / 21 Ss OWi 24/22
OLG Hamm, Beschluss vom 12.04.2022, 5 RBs 98/22
Das “letzte Wort” kann nur der Betroffene selber haben
Der Verteidiger ist – auch als bevollmächtigter Vertreter des abwesenden Betroffenen – weder zum letzten Wort aufzufordern noch kann er verlangen, nach seinem Schlussvortrag noch ein letztes Wort zu haben.
Aus den Gründen:
Das letzte Wort ist ein höchstpersönliches Recht des Betroffenen (vgl. BGH NJW 1962, 500, 501), das ihm die Möglichkeit geben soll, sich – unabhängig von dem Schlussvortrag des Verteidigers – mit seinen eigenen Worten abschließend zur Sache zu äußern (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.03.2020 – IV-2 RBs 47/20 – juris; Bock ZStW 2017, 745, 754; Stuckenberg in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 258 Rdn. 38 m.w.N.). Dieses Recht ist seiner Natur nach nicht übertragbar. Daher ist der Verteidiger – auch als bevollmächtigter Vertreter des abwesenden Betroffenen – weder zum letzten Wort aufzufordern noch kann er verlangen, nach seinem Schlussvortrag noch ein letztes Wort zu haben (vgl. nur: (KG Berlin, Beschl. v. 30.08.1999 – 2 Ss 161/99 – 3 Ws (B) 436/99 –juris; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.03.2020 – IV-2 RBs 47/20 – juris m. zahlr. w. Nachw.; OLG Koblenz NJW 1978, 2257 – LS -).
Quelle → VOLLTEXT / OLG HAMM / 12.04.2022 / 5 RBs 98/22
AG Tiergarten, Beschluss vom 05.04.2022, 310 OWi 161/22
Einspruch gegen den Bußgeldbescheid – Einlegung (nur) per beA?
Nach §§ 67, 100c Ordnungswidrigkeitengesetz in Verbindung mit § 32d Strafprozessordnung ist ein Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid ausschließlich als signiertes elektronisches Dokument über das BeA – Besondere Anwaltspostfach – und das BeBPo – das besondere elektronische Behördenpostfach – zu übermitteln. Eine Übermittlung in Papierform oder als Telefax ist unzulässig.
Interessanter Hinweis (in den Beschlussgründen):
Die Verteidigerin des Betroffenen ist die Formverletzung bekannt. Sie wurde durch Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 15.02.2022 zum Vorgang (319 OWi) 3032 Js-OWi 1436/22 (139/22) ausdrücklich darauf hingewiesen, zugestellt am 21.02.2022. Wegen dieser ihrer Säumnis der Formvorgaben musste ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand am 28.02.2022 gestellt werden, dennoch handelte sie vorliegend am 01.03.2022 erneut und damit bewusst entgegen den Formvorschriften.
Quelle → VOLLTEXT / AG TIERGARTEN / 05.04.2022 / 310 OWi 161/22
Anders aber:
AG Hameln, Beschluss vom 14.02.2022, 49 OWi 23/22und
Einspruch darf auch weiterhin per FAX eingelegt werden
OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 28.02.2023 – 1 SsOWi 1460/22
OLG Karlsruhe, Beschluss vom 22.03.2023 – 2 ORbs 35 Ss 125/23
OLG Düsseldorf vom 14.03.2022 – IV – 2 RBs 31/22
Der Regelungsbereich eines rechts aufgestellten Verkehrszeichens umfasst im Sinne einer quer zur gesamten Fahrbahn verlaufenden Linie sämtliche Fahrstreifen
(vgl. OLG Düsseldorf [1. Senat für Bußgeldsachen] NZV 1991, 204; OLG Köln NZV 1995, 329).
Verkehrszeichen stehen als Schilder regelmäßig rechts (§ 39 Abs. 2 Satz 3 StVO). Gelten sie nur für einzelne markierte Fahrstreifen, sind sie in der Regel über diesen angebracht (§ 39 Abs. 2 Satz 4 StVO).
OLG Hamm, Beschluss vom 03.03.2022, 5 RBs 48/22
Fahrverbot, Existenzgefährdung, Kündigung, Bescheinigung des Arbeitgebers
Will das Amtsgericht aufgrund einer angenommen unbilligen Härte von der Verhängung des Regelfahrfahrverbots absehen, ist es gehalten, in den Urteilsgründen eine eingehende, auf Tatsachen gestützte Begründung niederzulegen, die es dem Senat ermöglicht, die Annahme einer unbilligen Härte rechtlich überprüfen zu können. Bei der Beurteilung, ob für den Betroffenen eine solche unbillige Härte aufgrund eines konkret drohenden Verlustes des Arbeitsplatzes vorliegt, ist es dem Tatrichter zwar nicht schlechthin verwehrt, einer Behauptung des Betroffenen oder einer schriftlichen Bestätigung des Arbeitgebers, aus dem sich solche konkrete Anhaltspunkte ergeben können, zu glauben. Er hat jedoch die Angaben des Betroffenen oder des Arbeitgebers auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen und im Urteil darzulegen, aus welchen Gründen er diese für glaubhaft erachtet.
Ist für einen schweren Verkehrsverstoß ein mehrmonatiges Regelfahrverbot vorgesehen, so ist ggf. zu prüfen, ob zur Abwendung einer (tatsächlich feststellbaren) Existenzgefährdung die Reduzierung der Dauer des Fahrverbots ausreicht.
VerfG Brandenburg, Beschluss vom 18.02.2022, 54/21
Prüfpflichten eines Tatrichters beim standardisierten Messverfahren
Die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens entheben den Tatrichter jedoch nicht davon, Einlassungen zur Kenntnis zu nehmen oder, soweit diese nicht von vornherein als pauschale Behauptungen unzureichend sind, in Erwägung zu ziehen.
Hintergründe:
Das VerfG Brandenburg kommt zur Auffassung, dass sowohl das angegriffene Urteil des Amtsgerichts Oranienburg wie auch der nachfolgende Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 3. Mai 2021 (1 OLG 53 Ss‑OWi 162/21) den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör versetzt.
OLG Karlsruhe, Beschluss vom 02.02.2022 – III Rb 33 Ss 854/21
Sachverständigengutachten bei schlechter Fotoqualität zur Identifizierung des Fahrers erforderlich
Auch wenn dem Rechtsbeschwerdegericht im Beschlussverfahren nach § 72 OWiG ‒ anders als im Urteilsverfahren ‒ durch die erhobene Sachrüge der Zugang zu den Prozessakten eröffnet ist und ihm infolgedessen der gesamte Akteninhalt, insbesondere somit auch das Messfoto, zur Verfügung steht (vgl. OLG Bamberg, 8. v. 21.2.2018 ‒ 2 Ss OWi 111/18), kann der Senat aufgrund der schlechten Qualität des Messfotos die vom Amtsgericht in diesem Fotobild festgestellten Identifizierungsmerkmale (u.a. rundes, volles Gesicht, ausgeprägte vertikale Mulde zwischen Nase und Mund) nicht zweifelsfrei erkennen.
Vor einer neuen Entscheidung wird deshalb ein Sachverständigengutachten einzuholen sein (zu den Anforderungen an ein anthropologisches Identitätsgutachten und dessen Darlegung im Urteil: OLG Zweibrücken, B. v. 29.1.2018 ‒ 1 OWi 2 Ss8s 98/17 [auch zum Hinzutreten weiterer gewichtiger Indizien]; vgl. auch Huckenbeck/Krumm, NZV 2017, 453).
Hinweis: Im Beschlussverfahren erhält das Rechtsbeschwerdegericht durch eine erhobene Sachrüge Zugang zur gesamten Verfahrensakte (bei einer Entscheidung mit Urteil ist das hingegen nicht der Fall). Darauf weist das OLG hier in den Entscheidungsgründen auch noch einmal hin.
OLG FFM, Beschluss vom 31.01.2022 – 3 Ss-OWi 41/22
Rotlichtverstoß, Absehen vom Fahrverbot aufgrund Mitzieheffekts und Augenblicksversagen
1. Die Erfüllung des Tatbestands des § 4 Abs. 1 Nr. 3 BKatV, Nr. 132.3 BKat indiziert das Vorliegen eines groben Verstoßes im Sinne von § 25 Abs. 1 S. 1 StVG, weshalb es regelmäßig eines Fahrverbots bedarf; ein Ausnahmefall ist nur dann gegeben, wenn aufgrund der Umstände des Einzelfalls atypischerweise ein Absehen von der Regelwirkung rechtfertigt ist (Anschluss an BGHSt 38, 125 = NZV 1992, 117; OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 11.3.2020 – 1 Ss-OWi 72/20).
2. Von einem die Regelwirkung durchbrechenden atypischen Einzelfall ist auszugehen, wenn entweder der Erfolgsunwert erheblich vermindert ist oder nur ein Verstoß von minimalem Handlungsunwert vorliegt.
3. Zu der Frage der erheblichen Verminderung des Erfolgsunwerts und eines minimalen Handlungsunwerts aufgrund eines Augenblicksversagens und des „Mitzieheffekts“.
Quelle → VOLLTEXT / Direktlink zur JUSTIZ HESSEN
Zum Absehen von Fahrverbot bei Rotlichtverstoß im Ausnahmefall (Augenblicksversagen) auch schon
OLG FFM, Beschluss vom 11.03.2020, 1 Ss-OWi 72/20
Interessant ist auch der Hinweis des OLG zu Voreintragungen und “Rechtstreue” →
Überdies ist der Betroffene bislang straßenverkehrsrechtlich unbescholten. Zwar begründet dieser Umstand allein noch keinen Ausnahmefall. Im Zusammenspiel mit den oben dargestellten Umständen durfte das Amtsgericht aber auch diesen Umstand zur Begründung des Ausnahmefalls heranziehen.
KG Berlin, Beschluss vom 24.01.2022 – 3 Ws (B) 354/21
Rotlichtverstoß wegen verkehrsbedingtem Halt nach Überfahren der Haltelinie / “geschützter Bereich”
Geht das Fahren über die Haltlinie bei grünem Licht und das Einfahren in den Kreuzungsbereich nicht nahtlos ineinander über, weil es zwischen beiden Verkehrsvorgängen zu einem verkehrsbedingten Halt (z.B. infolge eines Fahrzeugstaus) vor der Lichtzeichenanlage kommt, so darf der Kraftfahrzeugführer nicht in den geschützten Bereich einfahren, wenn er diesen erst nach Rotlichtbeginn erreicht. Denn für ihn gilt ab dem Zeitpunkt des Umschaltens der Lichtzeichenanlage auf Rot das Haltgebot vor der Kreuzung, auch wenn er zuvor bei Grün die vorgelagerte Haltlinie überfahren hat.
OLG Hamm, Beschluss vom 07.02.2022 – 5 RBs 12/22
Vorsatz bei Geschwindigkeitsüberschreitung
Der Umstand, dass einem Betroffenen der Umfang einer Geschwindigkeitsüberschreitung möglicherweise nicht exakt bekannt ist, steht der Annahme von Vorsatz nicht entgegen. Vorsätzliches Handeln setzt eine solche Kenntnis nicht voraus. Es genügt das Wissen, schneller als erlaubt zu fahren.
Vielmehr genügt das Wissen, schneller als erlaubt zu fahren (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschl. v.19.02.2021 – 1 OLG 53 Ss-OWi 684/20 –juris; vgl. auch BayObLG NZV 1999, 97; OLG Düsseldorf NZV 1996, 463). Dem Betroffenen war damit bewusst, dass er die zulässige Höchstgeschwindigkeit jedenfalls nicht unerheblich erheblich überschritten hat. Wenn er es im Bewusstsein dessen unterließ, seine Geschwindigkeit durch den ihm jederzeit problemlos möglichen Blick auf den Tachometer zu kontrollieren und herabzumindern, brachte er dadurch hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass er eine Geschwindigkeitsüberschreitung auch in dem tatsächlich realisierten Ausmaß zumindest billigend in Kauf nahm.
Quelle → so wörtlich unter JUSTIZ NRW
OLG Frankfurt a. M. vom 06.01.2022 – 3 Ss-OWi 1202/21
Berechnung der Rotlichtdauer für qualifizierten Rotlichtverstoß / Zeitpunkt des Überfahrens der Haltelinie
Ein qualifizierter Rotlichtverstoß erfordert, dass der Fahrzeugführer das Rotlicht nach einer Rotlichtphase von mehr als einer Sekunde missachtet hat, wobei es hinsichtlich der Berechnung der Rotlichtdauer auf den Zeitpunkt des Überfahrens einer vorhandenen Haltelinie ankommt. Ist eine solche nicht vorhanden, muss ein anderer Bezugspunkt maßgeblich sein, etwa die Vorbeifahrt an der Lichtzeichenanlage oder das Einfahren in den von der Lichtzeichenanlage gesicherten Kreuzungsbereich.
Quelle: Beck-Verlag / beck-online / FD-StrVR 2022, 451466
BayObLG, Beschluss vom 04.12.2020 – 201 ObOWi 1471/20
Notwendige Begründung der Ablehnung eines Beweisantrags
Der Ablehnungsbeschluss eines unbedingten Beweisantrages auf Einholung eines Sachverständigengutachtens im Bußgeldverfahren muss begründet werden. Die Begründung darf nicht den Urteilsgründen überlassen werden.
Aus den Gründen:
Die Ablehnung unbedingter Beweisanträge darf nicht den Urteilsgründen überlassen werden. Die Ablehnung eines Beweisantrags hat gemäß § 71 Abs. 1 OWiG, § 244 Abs. 6 StPO durch einen noch vor Schluss der Beweisaufnahme mit Gründen zu versehenen und mit diesen gemäß § 273 Abs. 1 StPO zu protokollierenden Gerichtsbeschluss zu erfolgen (BGHSt 40, 287, 288; OLG Köln, Beschluss vom 30.01.1970 – 1 Ws [OWi] 9/70 = BeckRs 9998, 109184; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 63. Aufl. § 244 Rn. 82 m.w.N.; Göhler/Seitz/Bauer OWiG 17. Aufl. § 77 Rn. 23). Die Begründung soll den Antragsteller davon in Kenntnis setzen, wie das Gericht seinen Antrag beurteilt. Er soll dadurch in die Lage versetzt werden, sein weiteres Verteidigungs- bzw. Prozessverhalten auf die neue Verfahrenssituation rechtzeitig einzustellen (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 04.12.2006 – 3 Ss OWi 1614/06 [unveröffentlicht]). Hier liegt überhaupt keine Begründung der Ablehnung vor, es wurde lediglich der Antrag „zurückgewiesen“. Die willkürliche Ablehnung eines Beweisantrags, also die Ablehnung eines Beweisantrags ohne nachvollziehbare, auf das Gesetz zurückzuführende Begründung, die unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist, verletzt aber das rechtliche Gehör (BVerfG NJW 1992, 2811). Daran ändert auch die nachträgliche Begründung der Ablehnung des Beweisantrags im Urteil nichts. Denn daraus kann nicht geschlossen werden, aus welchen Gründen der Beweisantrag in der Hauptverhandlung abgelehnt worden ist.
Hinweis zum Sachverhalt → Der Verteidiger beantragte in der Hauptverhandlung zur Fahrereigenschaft sowie Vernehmung des Messbeamten als Zeugen die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache, dass die vorliegende Messung nicht den Vorgaben der Bedienungsanleitung des verwendeten Messgeräts ESO 3.0 genügt und daher nicht verwertbar ist. Das Fahrzeug des Betroffenen habe sich fast die ganze Fahrzeuglänge vor der Fotolinie befunden, hätte sich aber nach der Bedienungsanleitung auf Höhe der markierten Fotolinie befinden müssen. Das Amtsgericht lehnte diesen Beweisantrag ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls per Beschluss mit dem Wortlaut „Der Antrag wird zurückgewiesen.“ ab. In den Urteilsgründen wird ausgeführt, dass der Beweisantrag aufgrund der Aussage des Messbeamten gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zurückgewiesen werden konnte. Den Beweisantrag hatte der Verteidiger dem Amtsgericht zusätzlich bereits einen Tag vor der Hauptverhandlung schriftsätzlich übermittelt.
Quelle → VOLLTEXT / BayObLG / 04.12.2020 / 201 ObOWi 1471/20
OLG Koblenz vom 18.01.2022 – 2 OWi 32 SsRs 354/21
Rechtliches Gehör und Abwesenheitsverfahren
Hat das AG in einer sog. Abwesenheitsverhandlung nicht frühere Äußerungen und Anträge des Betroffenen zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht und diese weder in der Hauptverhandlung noch in den Urteilsgründen beschieden, ist das Recht des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt.
Aus den Gründen (das OLG bezieht sich hierbei auf folgende Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft):
§ 74 Absatz 1 Satz 2 OWiG bestimmt weiter, dass frühere Vernehmungen des Betroffenen und seine schriftlichen oder protokollierten Erklärungen durch Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts oder durch Verlesung in die Hauptverhandlung einzuführen sind. § 74 Abs. 1 Satz 2 OWiG soll sicherstellen, dass zum Ausgleich für die weitgehende Durchbrechung der auch im Bußgeldverfahren zu beachtenden Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsgrundsätze alle wesentlichen Erklärungen, die der Betroffene in irgendeinem Stadium des Verfahrens zu der gegen ihn erhobenen Beschuldigung abgegeben hat, im Falle des ihm gestatteten Fernbleibens von der Hauptverhandlung bei der Entscheidung berücksichtigt werden; es handelt sich hierbei um zwingendes Recht (OLG Celle, Beschluss vom 28.06.2016 – 2 Ss (OWi) 125/16, BeckRS 2016, 133188 m. w. N.).
siehe hierzu auch (wie vom OLG zitiert):
OLG Celle, Beschluss vom 28.06.2016, 2 Ss (OWi) 125/16
Vor der Hauptverhandlung schriftsätzlich gestellte Anträge des Betroffenen sind in einer Abwesenheitsverhandlung zum Gegenstand der Hauptverhandlung zu machen.
BayObLG, Beschluss vom 13.12.2021 – 201 ObOWi 1543/21
Atypischer Rotlichtverstoß an Baustellenampel – Regelbeispiel “entkräftet”
Nicht jede Missachtung eines Wechsellichtzeichens trotz bereits länger als eine Sekunde andauernder Rotphase stellt eine typische, die Verhängung der erhöhten Geldbuße sowie eines Fahrverbotes nach Nr. 132.3 BKat indizierende Pflichtverletzung dar. Insbesondere im Falle einer einspurigen Verkehrsführung an einer Baustellenampel kann die Indizwirkung des Regelbeispiels entkräftet sein.
In einem solchen Fall sind im tatrichterlichen Urteil nähere Darlegungen zur Tatörtlichkeit sowie zur konkreten Verkehrssituation erforderlich, die die Beurteilung erlauben, ob das Gewicht der Pflichtverletzung dem Typus des Regelfalles entspricht…
OLG Naumburg, Beschl. vom 28.12.2021, 1 Ws 219/21
Ausnahmen vom Fahrverbot (bestimmte Arten von KFZ)
Nach § 25 StVG kann das Gericht nur eine bestimmte Art von Kraftfahrzeugen von dem Fahrverbot ausnehmen. Eine Differenzierung nach Halter, hier Fahrzeuge der Bundeswehr, ist deshalb unzulässig.
Quelle → VOLLTEXT / OLG NAUMBURG / 1 Ws 219/21
KG Berlin, Beschluss vom 02.12.2021, 3 Ws (B) 323/21
Genügende Entschuldigung / Verhandlungsunfähigkeit
Eine zur Entschuldigung der Abwesenheit geltend gemachte Erkrankung muss nicht im Wortlaut benannt werden; die Benennung des ICD-10-Codes genügt.
Bei einer durch ärztliches Attest dokumentierten Gastroenteritis ist die bestehende Symptomatik mit „akuter Brechdurchfall“ ausreichend beschrieben.
Es ist regelmäßig unzulässig, aus dem Umstand, dass der erkrankte Betroffene einen Arzt aufgesucht hat, auf seine Verhandlungsfähigkeit zu schließen.
LG Stade, Beschluss vom 21.07.2021, 101 Qs 2510 Js 47343/18 (2/21)
Erstattungsfähigkeit eines Privatgutachtens zur Geschwindigkeitsmessung
Die Kosten für die Einholung eines privaten Sachverständigengutachtens sind ausnahmsweise dann als notwendige Kosten anzuerkennen und damit erstattungsfähig, wenn schwierige technische Fragestellungen zu beurteilen sind oder wenn aus Sicht des Betroffenen ex ante ein privates Sachverständigengutachten erforderlich ist, da ansonsten eine erhebliche Verschlechterung der Prozesslage zu befürchten wäre.
… und die Funktionsweise, die Einrichtung und die tatsächliche Messung sind – laut LG Stade – schwierig zu beurteilende technische Sachverhalte.
AG Straubing, Urteil vom 16.08.2021 – 9 OWi 705 Js 16602/21
Vorsatz-Verurteilung und Vorsicht vor (unbedachten) Äußerungen durch den Betroffenen / was “sagt” uns das Messfoto über den Fahrer ?
Aus den Urteilsgründen:
In der Gesamtschau der objektiven Umstände in Zusammenschau mit der Einlassung des Betroffenen ist das kognitive und das voluntative Element einer vorsätzlichen Begehensweise zumindest in Form eines bedingten vorsätzlichen Handelns gegeben.
Vorliegend erfolgt der Rückschluss auf eine vorsätzliche Begehungsweise aus folgenden Erwägungen:
… zumal der Betroffene aufgrund seiner eigenen nicht zu widerlegenden Einlassung ein Motiv hatte, zu schnell zu fahren, im Hinblick auf die terminlich gebotene Eile. Er gab selbst an. er habe es eilig gemacht und habe schnell noch Material holen müssen und es habe im Hinblick auf den Anschlusstermin pressiert.
Aus dem Messfoto Bl. 4 d.A. ist zudem zu entnehmen, dass der Betroffene sehr konzentriert wirkt und auf zügiges Fortkommen bedacht ist. Er wirkt nicht abgelenkt. Dies ergibt sich aus dem Messfoto aus folgenden Umständen: Der Betroffene zeigt keine Blickabwendung, sondern schaut geradeaus nach vorne. Die Augen sind weit offen, was eine Anspannung und Konzentration indiziert. Die Hand umklammert das Lenkrad mit einer festen Faust. Die Hand ist mithin nicht weit offen über das Lenkrad positioniert, sondern als geballte Faust einzustufen. Auch dies indiziert eine Anspannung und Fokussierung auf das Fahren mit möglicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit.
Anmerkung → Wegen der allerdings hohen Überschreitung hätte allerdings eine Vorsatzverurteilung – zumindest nach der herrschenden Rechtsprechung der OLG – nahe gelegen, denn (so die Urteilsgründe):
Vorliegend wurde die zulässige Geschwindigkeit (50km/h) um ca. 60 % überschritten Bereits dieses hohe Ausmaß der Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts indiziert das Wollenselement des wenigstens bedingten Vorsatzes.
KG Berlin vom 24.06.2021, 3 Ws (B) 131/21 – 122 Ss 60/21
Voraussetzung für vorsätzlichen Rotlichtverstoß bei Beschleunigung vor der Haltelinie bei schon Gelblicht
Auf die Aussagen der beiden mit einer gezielten Rotlichtüberwachung beauftragten Polizeibeamten hat das AG festgestellt, dass der Betroffene –seinem Entschluss entsprechend – sein Fahrzeug beschleunigte, als er das Gelblicht der Ampel wahrnahm, anstatt die Geschwindigkeit zu reduzieren, um an der Haltelinie entsprechend dem Normappell anzuhalten. Zwei bis drei Autolängen vor Erreichen der Haltelinie, als die Ampel bereits rotes Licht zeigte, konnten die Zeugen die zuvor nur hör- und nun aber auch sichtbare Beschleunigung dem Fahrzeug des Betroffenen zuordnen. Der Betroffene überfuhr ungebremst die Haltelinie. Mangels konkreter Anhaltspunkte hatte das Tatgericht auch keine Veranlassung, sich mit hypothetischen, für den Betroffenen günstigen Handlungsalternativen auseinanderzusetzen wie etwa, dass er einer Fehleinschätzung unterlag, er werde die Haltelinie noch vor dem Umspringen der Ampel auf Rot passieren oder dass er infolge Unaufmerksamkeit das Gelb- und anschließende Rotlicht so spät bemerkt hat, dass er das Fahrzeug vor der Haltelinie nicht mehr zum Stehen habe bringen können. Selbst der Verteidiger geht ersichtlich von solchen Fallgestaltungen nicht aus.
AG Landstuhl vom 11.05.2021, 2 OWi 4211 Js 4647/21
Vorsatz bei erheblichem Geschwindigkeitsverstoß eines Polizeibeamten
1. Ein Verkehrsverstoß eines Polizeibeamten während einer Dienstfahrt außerhalb von § 35 StVO rechtfertigt nicht die Annahme eines atypischen Falles, der lediglich mit einem Verwarnungsgeld zu ahnden wäre.
2. Bei einem Geschwindigkeitsverstoß trotz beidseitig angeordneter, als Geschwindigkeitstrichter ausgestalteter Beschilderung mit zusätzlichen Warnschildern für verkehrsbedingte Besonderheiten ist bei einer Überschreitung von relativen 40% der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von wenigstens bedingt vorsätzlichem Verhalten auszugehen. Dies gilt erst recht, wenn der Betroffene sich dahingehend einlässt, unter Zeitdruck gefahren zu sein und während der Messung ein kurz davor angenommenes dienstlich veranlasstes Telefonat geführt und damit seine Aufmerksamkeit vorsätzlich verringert zu haben.
3. Die Uneinsichtigkeit des Betroffenen sowie die berufliche Stellung als Polizeibeamter sind keine zum Nachteil des Betroffenen heranzuziehenden verkehrsrechtlichen Zumessungsgründe im Sinne des § 17 OWiG (OLG Bamberg, Beschluss vom 29. November 2010 – 3 Ss OWi 1660/10, DAR 2011, 92 zur Berufstätigkeit; KG, Beschluss vom 25. April 2001 – (3) 1 Ss 321/00 (28/01), DAR 2001, 467 zur Uneinsichtigkeit).
OLG Brandenburg, Beschluss vom 01.04.2019 – (1 Z) 53 Ss-OWi 104/19 (76/19)
Trotz Verteidigervollmacht muss nicht an den Verteidiger zugestellt werden (aber Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand möglich)
Aus den Gründen:
Die förmliche Zustellung an den Betroffenen ist … auch wirksam. Zwar hatte der Verteidiger des Betroffenen bereits im Verwaltungsverfahren die Vollmachtsurkunde zu den Akten gereicht …, so dass er gemäß § 145a Abs. 1 StPO iVm. § 71 OWiG als ermächtigt gilt, Zustellungen im Empfang zu nehmen. Von daher wäre das Bußgeldgericht gehalten gewesen, das Urteil dem Verteidiger zuzustellen und den Betroffenen davon formlos zu unterrichten (vgl. Nr. 154 Abs. 1 RiStBV). Die Vorschrift des § 145a Abs. 1 StPO ist jedoch eine bloße Ordnungsvorschrift und begründet keine Rechtspflicht, Zustellungen für den Betroffenen an dessen Verteidiger zu bewirken (allgemeine Ansicht, statt vieler: vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 8. Mai 2007, 4 Ws 210/07). Daher sind auch an den Betroffenen vorgenommene Zustellungen wirksam und setzen Rechtsmittelfristen in Gang (vgl. BVerfG NJW 2001, 2532; BGHSt 18, 352, 354; BayObLG VRS 76, 307; OLG Düsseldorf NStZ 1989, 88; OLG Frankfurt StV 1986, 288; OLG Karlsruhe VRS 105, 348; OLG Köln VRS 101, 373; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 145a Rn 6).
Aber Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand unter bestimmten Voraussetzungen möglich →
In diesem Zusammenhang ist aber auch die angeführte Entscheidung des
OLG Hamm, Beschluss vom 8. Mai 2007, 4 Ws 210/07
zur Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand wichtig:
Im Übrigen ermächtigt die Vorschrift des § 145 a StPO zwar zu Zustellungen an den Verteidiger, begründet aber keine Rechtspflicht, Zustellungen für den Beschuldigten an diesen zu bewirken. Zustellungen an den Beschuldigten sind wirksam und setzen die Rechtsmittelfristen in Lauf (Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., § 145 a Rdnr. 6 m.w.N.).
§ 145 a Abs. 3 S. 2 StPO sieht vor, dass der Verteidiger auch dann formlos von der Zustellung einer Entscheidung an den Beschuldigten zu unterrichten ist, wenn sich eine schriftliche Vollmacht nicht bei den Akten befindet. Ein Verstoß gegen § 145 a Abs. 3 S. 2 StPO, dem insoweit nur die Funktion einer Ordnungsvorschrift zuerkannt wird (BGH NJW 1977, 640, BVerfG NJW 2002,1640), lässt zwar die Wirksamkeitder Zustellung unberührt, kann aber regelmäßig die Wiedereinsetzung des Beschuldigten in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Rechtsmittelfrist begründen.Dies gilt indes nicht, wenn der Betroffene im konkreten Fall Anlass hatte, für die Einhaltung der Frist selbst Sorge zu tragen.
Warum das hier aber nicht funktioniert, lag am Verhalten des Betroffenen → siehe hierzu auch die Entscheidung im VOLLTEXT unter
Oberlandesgericht Hamm / Beschluss / 4 Ws 210/07
OLG Hamm, Beschluss vom 28.11.2019, 1 RBs 220/19
Geschwindigkeitsüberschreitung, verkehrsberuhigter Bereich, Schrittgeschwindigkeit und Verstoß gegen das Gebot der Schrittgeschwindigkeit allenfalls erst bei Überschreitung des Wertes von 10 km/h
a. Der Begriff der Schrittgeschwindigkeit genügt ungeachtet der hierzu in der obergerichtlichen Rechtsprechung vertretenen unterschiedlichen Auffassungen grundsätzlich dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG.
b. Die derzeit gegebene Uneinheitlichkeit in der obergerichtlichen Rechtsprechung, in welcher der Begriff der Schrittgeschwindigkeit teilweise bzw. überwiegend mit max. 7 km/h definiert, teilweise aber auch mit max. 10 km/h angegeben wird, führt unter Berücksichtigung des Bestimmtheitsgebotes bzw. des auch im Ordnungswidrigkeitenrecht geltenden Schuldprinzips dazu, dass einem Betroffenen unabhängig von der konkreten Kenntnis verschiedener gerichtlicher Entscheidungen und unabhängig von der Frage, welche der verschiedenen Auffassungen nach Bewertung des Senats als vorzugswürdig anzusehen wäre, ein Verstoß gegen das Gebot der Schrittgeschwindigkeit allenfalls erst bei Überschreitung des Wertes von 10 km/h zur Last gelegt werden kann, solange keine verbindliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs oder eine entsprechende gesetzliche Klarstellung vorliegt.
Anmerkung: Die Beschlussgründe sind höchst lesenswert wegen der Rechtsprechungsnachweise zu den einzelnen Auffassungen zur “Höhe” der Schrittgeschwindigkeit.
Quelle → VOLLTEXT / OLG Hamm / 28.11.2019 / 1 RBs 220/19
OLG Jena vom 21.09.2020 – 1 OLG 151 SsBs 72/20
Sachverständigengutachten – Urteilsgründe – Sachrüge
Stützt der Tatrichter den Schuldspruch auf ein Sachverständigengutachten, so ist in den Urteilsgründen eine verständliche in sich geschlossene Darstellung der dem Gutachten zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen, der wesentlichen Befundtatsachen und der das Gutachten tragenden fachlichen Begründung erforderlich. Die Darstellung des Ergebnisses des Gutachtens ist unzureichend und die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils lückenhaft.
Das Urteil führt nur punktuell das Ergebnis des Gutachtens auf, ohne eine geschlossene Darstellung der Anknüpfungs- und Befundtatsachen. Auch die das aufgeführte Ergebnis des Gutachtens tragende fachliche Begründung wird nicht mitgeteilt. Eine Prüfung der Schlüssigkeit des Gutachtens ist somit nicht möglich.
Die alleinige Mitteilung des Ergebnisses des Sachverständigengutachtens kann zwar u.U. dann ausreichen, wenn der Sachverständige bei der Begutachtung ein weithin standardisiertes Verfahren angewendet hat, es sich um einen renommierten Sachverständigen handelt und wenn von keiner Seite Einwände gegen die der Begutachtung zugrunde liegende Tatsachengrundlage und die Zuverlässigkeit der Begutachtung selbst erhoben werden (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 06. Oktober 2004 – 2 Ss OWi 555/04 -, Rn. 10 m.w.N.). Diese Voraussetzungen, unter denen die Mitteilung des Ergebnisses ausnahmsweise zur Beweisführung ausreicht, liegen hier nicht vor.
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass das Urteil nach §§ 71 Abs. 1 OWiG, 267 Abs. 1 Satz 1 StPO eigene Feststellungen zum Tatgeschehen als Grundlage des Schuldspruchs ausweisen muss. Mit der Darstellung der Tat unter Ziff. II des Urteils, eingeleitet mit “dem Betroffenen wird vorgeworfen”, werden eigene Feststellungen des Amtsgerichts nicht belegt. Die bloße Wiedergabe des Bußgeldbescheides ist nicht ausreichend (vgl. Senat, Beschluss vom 30.07.2020, Az. 1 Ss 57/20 für § 267 Abs. 1. Satz 1 StPO; Beschluss vom 10.01.2005 – 1 Ss 239/04 -, Rn. 21 ff., juris).
AG Wetzlar, Beschluss vom 27.3.2000, 4 OWI Js 20157.3/00
Wiederaufnahme auch zulässig, wenn Fahrverbot verhängt wurde (und Wertgrenze von 250 EUR gemäß § 85 I 1 Nr. 1 OWIG nicht erreicht)
Die auf neue Tatsachen und Beweismittel gestützte Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Ordnungswidrigkeitsverfahrens zu Gunsten des Betroffenen ist nicht unzulässig i. S. von § 85 II OWiG, wenn der Bußgeldbescheid neben einer Geldbuße von 200,- DM als Nebenfolge nichtvermögensrechtlicher Art ein Fahrverbot von einem Monat anordnet.
Quelle → Beck-Verlag / beck-online / LSK 2000, 420544
Quelle → DAR 2000, 376
hierzu auch (bestätigend)
AG Köln, Beschluss vom 02.03.2017 – 817 OWi 91/17
Dies bedeutet, dass bei einer verhängten Geldbuße von über 250 Euro und/oder der Verhängung eines Fahrverbotes – als einer Nebenfolge vermögensrechtlicher Art über dieser Wertgrenze – grundsätzlich ein Wiederaufnahmeverfahren zulässig sein könnte.
OLG Celle, Beschluss vom 25.07.2011, 311 SsRs 114/11
Zulässigkeit der Unterschreitung des Regelabstands zwischen Verkehrszeichen und Geschwindigkeitsmessanlage
Ein Kraftfahrer hat seine Geschwindigkeit grundsätzlich so einzurichten, dass er bereits beim Passieren eines die Geschwindigkeit regelnden Verkehrszeichens die vorgeschriebene Geschwindigkeit einhalten kann (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 120; hiesiger 2. Bußgeldsenat, Beschluss vom 30.08.2002 – 222 Ss 137/02 (Owi)). Allerdings trägt die Rechtsprechung möglichen Unwägbarkeiten bei der Einfahrt in eine Zone mit veränderter Geschwindigkeitsregelung bei der Frage des Ausmaßes des Verschuldens grundsätzlich Rechnung, indem sie dem Kraftfahrer zubilligt, dass er mit gewissen Abständen zwischen geschwindigkeitsregelndem Verkehrszeichen und Messstrecke rechnen kann (vgl. Senatsbeschluss vom 26. Juni 2007 – 311 Ss 49/07 (Owi); ebenso hiesiger 2. Bußgeldsenat aaO; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., StVO § 3 Rn. 45; jew. m.w.N.).
→ → → und hier lohnt dann immer ein Blick in die Geschwindigkeitsrichtlinien des jeweiligen Bundeslandes:
Beipiel Mecklenburg-Vorpommern → Erlass zur Geschwindigkeitsüberwachung im öffentlichen Straßenverkehr vom 22.12.1995 in der Fassung vom 1.3.2003; Auskunft des Ministeriums für Inneres und Sport vom 22.8.2012 und des Ministeriums für Energie, Infrastruktur und Landesentwicklung vom 10.9.2014
→ Entfernung zur Geschwindigkeitsbeschränkung: Auf Kraftfahrtstraßen und Autobahnen 250 m, ansonsten 100 m. Unterschreitung in zu begründenden und zu dokumentierenden Ausnahmefällen.
OLG Rostock, Beschluss vom 15.4.2015 – 21 Ss OWi 45/15 (Z)
Der vom Verteidiger bewusst in einem umfangreichen Schriftsatz versteckte Entbindungsantrag, der zudem so kurzfristig bei Gericht angebracht wird, dass er bei gewöhnlichem Geschäftsgang vor Beginn der Hauptverhandlung nicht erkannt wird, ist nicht ordnungsgemäß angebracht worden. [Abgrenzung OLG Rostock, Beschluss vom 27.4.2011 – 2 Ss (OWi) 50/11 (63/11)]
Hintergrund: Der Verteidiger hatte 53 Minuten vor dem angesetzten Termin einen 5-seitigen Schriftsatz beim Gericht eingereicht, der gekennzeichnet war mit einem Eilt-Vermerk, dem Hinweis auf den Termin und der Bitte um sofortige Vorlage beim zuständigen Richter. Ohne Hinweis auf einen Entbindungsantrag erfolgten diverse Beschwerden und Ausführungen, dann irgendwann ohne Kennzeichnung beiläufig über 2 1/2 Zeilen der (versteckte) Entbindungsantrag.
Hinweis: Ein “sauberer” Entbindungsantrag kann auch noch am Tag des anberaumten Termins eingereicht werden. Das dürfte sich auch im Umkehrschluss aus der obigen Entscheidung des OLG Rostock selbst ergeben. Ausdrücklich bestätigt dies:
OLG Bamberg, Beschluss vom 03.07.2018 – 3 Ss OWi 932/18
Hierzu siehe aber auch KG, Beschluss vom 27.7.2021 – 3 Ws (B) 194/21
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 26.02.2020, 2 RBs 1/20
Halterhaftung nach § 25 a StVG bei Parken ohne Umweltzonenplakette
Die dem Straßenverkehrsrecht fremde Annahme einer „mittelbaren“ Verkehrsteilnahme des Halters bietet mangels Feststellung einer rechtswidrigen und vorwerfbaren Handlung – sei es durch Tun oder Unterlassen – keine Grundlage für dessen Verurteilung wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit (hier: Verstoß gegen ein Verkehrsverbot zur Verminderung schädlicher Luftverunreinigungen).
Auch wenn ein Kraftfahrzeug in einer Umweltzone ohne (gültige) Plakette im Sinne des § 3 der 35. BImSchV lediglich geparkt war, kann dies nach § 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO als Verkehrsordnungswidrigkeit des Kraftfahrzeugführers geahndet werden.
Wird ein Kraftfahrzeug ohne (gültige) Plakette und damit ordnungswidrig in einer Umweltzone geparkt, stellt dies eine der Kostenregelung des § 25a Abs. 1 Satz 1 StVG unterfallende Anlassordnungswidrigkeit („Parkverstoß“) dar.
Die Kostentragungspflicht des Halters erstreckt sich nicht auf die Kosten der Rechtsbeschwerde, wenn bereits das Amtsgericht auf Freispruch hätte er-kennen müssen.
Nachfolgend (ebenso):
AG Marburg, Beschluss vom 24.01.2022 – 52 OWi 45/21
AG Hannover, Beschluss vom 30.04.2020, 210 OWi 194/20