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Kritisches Vorwort …
Da es seit Jahren in der Rechtsprechung drunter und drüber geht zur Frage, worauf denn die Verteidigung in einem Bußgeldverfahren im Rahmen der Akteneinsicht Anspruch hat, haben wir uns entschlossen, hier nach und nach die zum Teil vollkommen wirren Urteile und Beschlüsse aus deutschen Gerichten vorzustellen. Natürlich erhebt dieser Blog keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Nachdem es lange Zeit ein wahres Trauerspiel in deutschen Gerichten war, ist umso erfreulicher, dass sich dann doch einige Gerichte in den letzten Monaten, auch das Bundesverfassungsrecht, zur Stärkung der Verteidigerrechte geäußert haben. Mittlerweile gibt es einige sehr prägnante Entscheidungen, die der Verteidigung das Recht zusprechen, auch ohne konkreten Vortrag die Messdaten (auch der Mess-Serie), die Wartungsunterlagen (eventuell gar die “Lebensakte“) und alle sonstigen Unterlagen einzusehen. Es dürfte doch an jedem Stammtisch klar sein, dass ein Verteidiger (ggfls. unter Hinzuziehung eines Sachverständigen) erst einmal Einsicht in alle diese Unterlagen haben muss, um überhaupt prüfen zu können. Wie soll man denn überhaupt einen Messfehler konkret vortragen, wenn man gar keine vollständige Akteneinsicht erhält.
Um dem Leser einen besseren Überblick zu geben, trennen wir die “Richtungen” in der Rechtsprechung in zwei Blöcke und beginnen unter I. mit den Entscheidungen, die für eine – unbeschränkte – Verteidigung (also pro Betroffenen) stehen … und es werden immer mehr.
I. Entscheidungen “pro” Betroffenen
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 22.8.2023 – 1 ORbs 34 Ss 468/23
Anspruch auf Übersendung von Messunterlagen, wie Token-Datei und
Passwort
Das Zugangsrecht zu den Messunterlagen umfasst die unverschlüsselte
Einsicht, mithin die Übersendung einschließlich Token-Datei und Passwort.
Die Verteidigung kann nicht auf Einsicht in die Unterlagen in den Räumen
der Dienststelle des Messbeamten verwiesen werden.
Aus dem Umstand, dass das verwendete Messgerät die Rohmessdaten
nicht speichert, folgt kein Beweisverwertungsverbot.
Quelle: VRR 2023, Heft 10, Seite 23
OLG Bremen, Beschluss vom 20.10.2023 – 1 ORbs 25/23
1. Der Anspruch des Betroffenen auf Zugang zu außerhalb der Akte befindlichen Informationen umfasst neben der ihn betreffenden Falldatei auch den zum Öffnen dieser Datei erforderlichen öffentlichen Schlüssel des Messgeräts.
2. Das Zugangsrecht des Betroffenen auf Messunterlagen erstreckt sich nicht lediglich auf Einsicht in die Unterlagen in den Räumen der Dienststelle des Messbeamten, sondern gebietet eine Übersendung der Unterlagen, wenn kein Beweismittelverlust droht, keine Rechte Dritter betroffen sind und auf Seiten des Betroffenen ein konkretes Bedürfnis für die Übersendung dargelegt wurde.
3. Die Verweigerung der Herausgabe nicht bei den Akten befindlicher Daten berührt den Grundsatz des fairen Verfahrens nur dann, wenn sie erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Dies ist bei den Daten der gesamten Messreihe nicht der Fall.
4. Die fehlende Speicherung von Rohmessdaten steht der Verwertung des Messergebnisses eines standardisierten Messverfahrens nicht entgegen und verletzt den Betroffenen nicht in seinem Recht auf ein faires Verfahren.
OLG Köln, Beschluss vom 30.05.2023, 1 RBs 288/22
Anspruch auf Überlassung der gesamten Messserie des Tattages
Dem Betroffenen ist der Zugang zu den digitalen Falldaten der gesamten Messreihe des Tattages zu gewähren.
Anmerkung (von uns):
Die Entscheidung ist schon deshalb lesenswert, weil der Streitstand zu dieser Frage mit umfangreicher Rechtsprechungsnachweise sehr umfassend dargestellt ist. Zudem werden die Voraussetzungen für diesen Anspruch – aus Sicht des erkennenden OLG – dargelegt.
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.01.2023, 1 VB 38/18
Sowohl das Amtsgericht als auch das Oberlandesgericht haben vorliegend verkannt, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren für den Beschwerdeführer grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen, vorliegend namentlich der Wartungs- und Reparaturunterlagen des verwendeten Messgeräts, folgt. Dieser Anspruch verpflichtet nicht etwa das Gericht, die geforderten Unterlagen aufgrund seiner Aufklärungspflicht beizuziehen und zu prüfen, sondern entspringt allein dem Recht des Betroffenen, die Grundlagen des gegen ihn erhobenen Vorwurfs einzusehen und selbst zu prüfen.
Quelle → als PDF direkt dort abrufbar
AG Dortmund, Beschluss vom 15.09.2022 – 729 OWi-263 Js 1114/22-89/22
Werden dem Verteidiger vorliegende Rohmessdaten und die Bedienungsanleitung von der Verwaltungsbehörde auch noch im gerichtlichen Verfahren vorenthalten, so liegt eine Verletzung fairen Verfahrens vor. Durchsuchungen bei der Verwaltungsbehörde
sind in einem solchen Fall unverhältnismäßig. Ein Verfahren, in dem es zu einer Verletzung fairen Verfahrens kommt, kann nach § 47 OWiG eingestellt werden.
Quelle: VRR, 11 | NOV 2022, Seite 4
AG Schleiden, Urteil vom 02.09.2022 – 13 OWi 179/22
(Fehlende) Rohmessdaten und Akteneinsicht bei der Geschwindigkeitsmessung mit ESO ES 8.0
Die mutwillige softwarebedingte Nichtspeicherung von Messdaten, die
zuvor bei dem gleichen Gerätetyp einer Speicherung unterlagen, ist eine mit dem rechtsstaatlichen Verfahren, konkret dem Anspruch der betroffenen Person auf eine effektive Verteidigung nicht zu vereinbarende und daher nicht hinnehmbare mutwillige Unterdrückung.
Der Grundsatz des „fairen Verfahrens“ gebietet es, dass die Bußgeldbehörde
in einem Verfahren betreffend eine Geschwindigkeitsmessung
die von dem verwendeten Messgerät erhobenen Messdaten jedenfalls auf
Verlangen dem Verteidiger und dem Gericht zur Verfügung stellt.
Verlangt der Verteidiger Einsicht in Messdaten, die vormals bei dem gleichen Gerätetypen der Speicherung unterlagen, und können diese aufgrund einer nunmehr fehlenden Speicherung nicht zur Verfügung gestellt werden, trägt allein dies einen Freispruch aus rechtlichen Gründen.
Quelle: VRR 2022, Heft 12, Seiten 25/26
OLG Celle, Beschluss vom 22.02.2022, 2 Ss (OWi) 264/21
Lebensakte bzw. Wartungsnachweise (auch für den Zeitraum nach dem Tattag)
Auskunft auch zu nicht eichpflichtigen bzw. -relevanten Ereignissen
Herausgabe der Gebrauchs- bzw. Bedienungsanweisung an den Betroffenen bzw. die Verteidigung (und kein zulässiger Verweis auf Einsichtnahmemöglichkeit bei der Behörde)
Herausgabe der Messserie mit Verweis auf das Vorlageverfahren des OLG Zweibrücken zum BGH offen gelassen
Datenprotokoll der Wechselverkehrszeichenanlage je nach Verteidigungsrelevanz in Abhängigkeit von der Geschwindigkeitsrichtlinie (Thematik: Abstand zwischen Geschwindigkeitsanordnung und Messort)
Interessant (aus den Gründen):
… zum einen die von der Verteidigung begehrte Einsichtnahme in die sog. Lebensakte bzw. in etwaige Reparatur,- Störungs,- Reinigungs- und Wartungsnachweise für das bei der Geschwindigkeitsmessung des Betroffenen verwendete Messgerät.
Grundsätzlich können sich aus solchen Unterlagen im Einzelfall für die Verteidigung des Betroffenen relevante Informationen ergeben, die ‒ ggf. nach weiterer Überprüfung durch einen vom Betroffenen beauftragten Sachverständigen ‒ auf Fehler bei der Geschwindigkeitsmessung des vom Betroffenen geführten Fahrzeugs hindeuten können. Daher unterliegen auch solche Unterlagen dem Zugangsrecht des Betroffenen bzw. seiner Verteidigung.
OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.02.2022 – 1 Rb 34 Ss 9/22
… weist der Senat darauf hin, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren für den Beschwerdeführer grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgen kann (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 04.05.2021 – 2 BvR 277/19 -, juris und BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 -, juris; Senat, Beschluss vom 16.07.2019 -1 Rb 10 Ss 291/19-, juris).
Angesichts des von der Betroffenen im vorliegenden Bußgeldverfahren geltend gemachten Anspruchs auf umfassende Einsicht in bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Unterlagen … wird das Amtsgericht – neben einer abschließenden Aufklärung bei der Bußgeldbehörde, ob die vom Beschwerdeführer weiterhin begehrten Daten und Unterlagen tatsächlich existieren und vorgelegt werden können – (ggf. mit Hilfe eines technischen Sachverständigen) zu prüfen und entscheiden haben, ob die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem vorliegenden Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Insofern ist maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen beziehungsweise seines Verteidigers abzustellen. Entscheidend ist, ob dieser eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf. Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, wohingegen die Bußgeldbehörden und schließlich die Gerichte von einer weitergehenden Aufklärung gerade in Fällen standardisierter Messverfahren grundsätzlich entbunden sind. Es kommt deshalb insofern nicht darauf an, ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich erachtet (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 -, Rn. 57, juris).
VerfGH Rheinland-Pfalz vom 13.12.2021, VGH B 46/21
Anspruch auf Herausgabe von Wartungsunterlagen eines Geschwindigkeitsmessgerätes im standardisierten Messverfahren
Amtliche Leitsätze
1. Gelangt im Ordnungswidrigkeitenverfahren ein standardisiertes Messverfahren zur Anwendung, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 LV) im Grundsatz der Anspruch des Betroffenen, Kenntnis auch von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden und weiterhin vorhanden sind, aber nicht zur Bußgeldakte genommen wurden.
2. Ein Anspruch auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen setzt in formeller Hinsicht voraus, dass die begehrten Informationen hinreichend konkret benannt werden. In materieller Hinsicht erfordert der Anspruch auf Informationszugang zu den nicht zur Bußgeldakte gelangten Informationen einen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf sowie eine erkennbare Relevanz für die Verteidigung. Der Anspruch auf Einsicht in nicht zur Bußgeldakte gelangte Informationen besteht nicht, wenn gewichtige verfassungsrechtlich verbürgte Interessen wie beispielsweise die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege oder schützenswerte Interessen Dritter entgegenstehen (wie BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –).
Zu den Gründen (aus der Pressemitteilung vom 15.12.2021)
Die Entscheidungen des Amtsgerichts und des Oberlandesgerichts verletzten den Beschwerdeführer in seinem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz). Aus dieser Gewährleistung, die sich mit den entsprechenden Vorgaben des Grundgesetzes decke, folge im Grundsatz das Recht des Betroffenen, in tatsächlich vorhandene Unterlagen über Messgerät und Geschwindigkeitsmessung Einsicht zu nehmen. Auf diese Weise werde dem auch von dem Bundesverfassungsgericht in jüngerer Zeit betonten Gedanken der „Waffengleichheit“ zwischen Bußgeldbehörde und Betroffenem Rechnung getragen und diesem die Möglichkeit eröffnet, selbst nach Entlastungsmomenten in Gestalt von Fehlern im Messverfahren zu suchen. Allerdings bestehe ein Informationsanspruch nicht unbegrenzt. Er setze zum einen voraus, dass der Betroffene die begehrten Informationen hinreichend konkret benenne. Zum anderen sei erforderlich, dass die Dokumente überhaupt einen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf sowie eine erkennbare Relevanz für die Verteidigung aufwiesen. Zudem dürften dem Anspruch keine gewichtigen verfassungsrechtlich verbürgten Interessen wie beispielsweise die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege oder schützenswerte Interessen Dritter entgegenstehen. Im Falle der vom Beschwerdeführer begehrten Einsicht in die Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen des Messgeräts seien die Voraussetzungen eines Einsichtsrechts erfüllt.
Anmerkung (von uns):
Leider hat sich der VerfGH dann nicht (mehr) zu folgender, vom Beschwerdeführer aufgeworfenen Frage geäußert:
Wiederum aus der Pressemitteilung vom 15.12.2021:
Da die Verfassungsbeschwerde bereits wegen der verweigerten Einsichtnahme in die genannten Unterlagen erfolgreich war, könne die vom Beschwerdeführer weiter aufgeworfene Frage dahinstehen, ob das Messergebnis wegen der vom Messgerät nicht gespeicherten sog. Rohmessdaten verwertbar gewesen sei.
Quelle → PRESSEMITTEILUNG von 15.12.2021
Quelle → VOLLTEXT und LEITSÄTZE abrufbar unter …
OLG Koblenz, Beschluss vom 01.02.2022, 3 OWi 32 SsBs 99/21
Messserie des Tattages / ESO-Einseitensensor ES 3.0 – Softwareversion 1.007.2 / Rohmessdaten / Vorlagebeschluss BGH
Das OLG Koblenz legt dem BGH folge Rechtsfrage vor (wörtlich aus den Entscheidungsgründen):
Nach alledem bedarf die im Beschlusseingang aufgeworfene Rechtsfrage, ob ein in einem standardisierten Messverfahren gewonnenes Messergebnis den Urteilsfeststellungen zu einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zugrunde gelegt werden darf, wenn zuvor dem Antrag des Betroffenen, ihm die vorhandenen (Roh-)Messdaten der Tagesmessserie zur Einsicht zu überlassen, nicht stattgegeben worden ist, der Entscheidung des Bundesgerichtshofs.
Anmerkung:
Die Statistikdatei sowie die Gebrauchsanweisung waren dem Verteidiger von der Bußgeldbehörde zur Verfügung gestellt worden (auf CD).
Die Herausgabe bzw. Einsichtnahme in die Caselist-Datei, die Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen sowie die Konformitätsbescheinigung für das Messgerät waren von der Verteidigung nicht mehr “in einer auf eine sachgerechte Prozessführung bedachten Weise” (so wörtlich das OLG Koblenz) weiter verfolgt worden.
AG Hannover, Beschl. v. 28.11.2017 – 24 OWi 298/17
Auch im Falle eines sog. standardisierten Messverfahrens kann sich aus dem Recht auf ein faires Verfahren ein Anspruch des Betroffenen auf Einsicht in vorhandene, sich nicht bei den Akten befindliche Messdaten ergeben, und zwar unabhängig davon, ob konkrete Anhaltspunkte für einen Messfehler vorliegen oder vorgetragen worden sind (vgl. Beschluss des OLG Celle v. 16.6.2016, Az. 1 Ss (Owi) 96/16, juris). Dies ergibt sich aus der Obliegenheit des Betroffenen, im weiteren Verfahrensverlauf konkrete Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Geschwindigkeitsmessung vorzutragen, damit überhaupt eine Beweiserhebung über die Korrektheit der Messung durch das Gericht in Betracht kommt. Hierfür benötigt der Betroffene zwangsläufig den Zugang zu den oben bezeichneten Daten, da erst die Auswertung dieser Daten unter Hinzuziehung eines Sachverständigen den Betroffenen in die Lage zu einem konkreten, entsprechenden Sachvortrag versetzt.
Einer solchen Datenherausgabe stehen mit der Herausgabe an den Verteidiger und der Bereitstellung an einen von diesem beauftragten Sachverständen auch eventuelle datenschutzrechtliche Bedenken nicht entgegen. Es ist nicht ersichtlich, welche unzulässigen Informationen oder Schlussfolgerungen aus den obigen Daten gezogen werden sollten
Der Verteidiger ist selbst Organ der Rechtspflege und damit zu einem sachgemäßen Umgang standesrechtlich verpflichtet. Auch in der Person eines Sachverständigen ist ein Missbrauch konkret nicht zu befürchten.
Es stößt dabei gelinde gesagt beim Gericht auf mehr als nur Verwunderung, dass die Bußgeldbehörde trotz der mittlerweile hierzu ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung, die dem Betroffenen einen Rechtsanspruch auf Herausgabe der Messdaten ausnahmslos zubilligt und bei Verweigerung der Herausgabe durch die Bußgeldbehörde eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Betroffenen konstatiert (vgl. OLG Celle a.a.O., OLG Celle, Beschluss vom 21. März 2016 — 2 Ss (0Wi) 77/16 —, juris m.w.N.), weiterhin unter Berufung auf datenschutzrechtliche Richtlinien dennoch die Gerichte mit derart eindeutigen Sachverhalten überobligatorisch in Anspruch nimmt und damit vermeidbar für andere Verfahren dringend benötigte Kapazitäten bindet.
OLG Koblenz, Beschluss vom 13.01.2022 – 2 OWi 32 SsBs 310/21
… besteht vorliegend, betreffend den Zeitraum seit der der Messung vorausgehenden Eichung, ein Einsichtsrecht in vorhandene
Reparatur- und Wartungsunterlagen beziehungsweise ein Recht auf eine entsprechende Erklärung der Bußgeldbehörde, soweit solche Unterlagen nicht vorhanden sind.
AG Heidelberg, Beschluss vom 26.07.2017 – 16 OWi 432/17
Auf den Antrag des Verteidigers wird die Bußgeldbehörde verpflichtet, dem Betroffenen bzw. seinem Verteidiger Einsicht in die Unterlagen zu gewähren, aus denen sich durchgeführte Wartungs- und/oder Reparaturarbeiten sowie Eichungen (Wartungsbuch, Lebensakte o.a.) ergeben. Die Einsicht kann auch durch Übersendung einer Kopie derselben erfolgen.
Die Verwaltungsbehörde wird ferner verpflichtet, dem Betroffenen bzw. dessen Verteidiger Einsicht in die Unterlagen zu gewähren, aus denen sich die verkehrsrechtliche Anordnung der Geschwindigkeitsbegrenzung am Tattag am Tatort ergeben.
Die Verwaltungsbehörde wird ferner verpflichtet, einem vom Betroffenen oder dessen Verteidiger beauftragten, öffentlich bestellt und vereidigten Sachverständigen für Verkehrsmesstechnik den gesamten Datensatz der Messreihe nebst Token und Passwort zur Verfügung zu stellen.
Die Verwaltungsbehörde wird ferner verpflichtet, dem Verteidiger die Statistikdatei für die Messreihe am Tattag – sofern vorhanden – zur Verfügung zu stellen.
OLG Celle, Beschl. v. 16.06.2016 – 1 Ss (OWi) 96/16
Denn bereits die Entscheidung, dem Betroffenen nicht die Möglichkeit einzuräumen, auf die Rohmessdaten zurückzugreifen, stellt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar.
Auch wenn die Messdaten nicht Bestandteil der Verfahrensakte sind, müssen sie dem Betroffenen auf dessen Antrag zur Verfügung gestellt werden. Denn nur so wird der Betroffene in die Lage versetzt, die Messung auf ihre Ordnungsgemäßheit zu überprüfen bzw. überprüfen zu lassen. Dass es sich bei der angewendeten Messmethode um ein standardisiertes Verfahren handelt, steht dem nicht entgegen. Gerade weil bei einer solchen Messmethode das erkennende Gericht nur zu einer weiteren Aufklärung und Darlegung verpflichtet ist, wenn sich Anzeichen für eine fehlerhafte Messung ergeben, muss dem Betroffenen die Möglichkeit eröffnet sein, solche Fehler substantiiert vortragen zu können. Hierfür ist er auf die Messdaten angewiesen. Werden diese zurückgehalten, liegt ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör vor (vgl. OLG Oldenburg a. a. O.; Cierniak, ZfS 2012, 664).
AG Freiburg, Beschl. v. 07.06.2017 – 37 OWi 88/17
Gemäß § 46 OWiG i.V.m. § 147 StPO hat der Verteidiger des Betroffenen ein Recht auf Akteneinsicht, das sich auf alle Akten, Aktenteile und weitere Unterlagen oder Datenträger bezieht, auf die der Vorwurf in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gestützt wird (Göhler OWiG, 15. Aufl., § 60 Rn. 49), aus denen sich der Schuldvorwurf ergeben soll und die möglicherweise auch der Entlastung des Betroffenen dienen können.
Das umfassende Akteneinsichtsrecht der Verteidigung ist auch aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens begründet. Die Verteidigung muss, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen, die erfolgte Messung in allen Einzelheiten auch und gerade hinsichtliche möglicher Fehlerquellen überprüfen können (AG Cottbus, Beschluss vom 14.09.2012 – Az.: 83 OWi 1122/12).
LG Trier, Beschluss vom 14.09.2017 – 1 Qs 46/17
Auf die Beschwerde der Betroffenen wird der Beschluss des Amtsgerichts Wittlich vom 8. August 2017 (36 OWi 8141 Js 12602/17) aufgehoben und das Polizeipräsidium Rheinpfalz, Zentrale Bußgeldstelle, angewiesen, der Verteidigerin folgende Daten auf einem von ihr bereitgestellten Speichermedium zur Verfügung zu stellen:
• Digitale Falldatensätze inklusive unverschlüsselter Rohmessdaten der gesamten Messserie,
• Statistikdatei zur Messserie.
Ferner hat das Polizeipräsidium Rheinpfalz, Zentrale Bußgeldstelle, der Verteidigerin folgende Unterlagen zur Verfügung zu stellen:
• Wartungs- und Instandsetzungsnachweise des Messgeräts seit der letzten Eichung,
• Eichnachweise seit der ersten Inbetriebnahme.
Der dem Amtsgericht Wittlich bereits auf CD vorliegende “Public Key” des Messgeräts ist der Verteidigerin ebenfalls im Wege der Akteneinsicht zur Verfügung zu stellen.
AG Daun, Beschluss vom 15.11.2017 – 4 OWi 68/17 (ändert die eigene Rechtsprechung zugunsten des Betroffenen)
Die Zentrale Bußgeldstelle Speyer war zunächst antragsgemäß zu verpflichten, dem Betroffenen Einsicht in die gesamte Messerie zu verschaffen.
Da aber jedenfalls die obergerichtliche und höchstrichterliche Rechtsprechung vom Betroffenen einen detaillierten Vortrag im Hinblick auf etwaige konkrete Mängel des Messverfahrens verlangt, muss der Betroffene bzw. sein Verteidiger in der Lage sein, konkrete, die Amtsaufklärungspflicht auslösende Anhaltspunkte für Messfehler vorzutragen. Hierfür aber wiederum benötigt er zwangsläufig den Zugang zu den Messunterlagen und insbesondere zum Messfilm bzw. zu den kompletten Messdaten der Messserie. Erst die Auswertung dieser Daten – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines privaten Sachverständigen- versetzt den Betroffenen in die Lage zu entsprechendem Sachvortrag.
Und dann ein kleines “ABER” in Sachen Lebensakte …
Es besteht jedoch kein Anspruch des Beschwerdeführers auf Beiziehung einer Lebensakte des verwendeten Geschwindigkeitsmessgerätes, von (weiteren) Eichscheinen und Nachweisen über Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe an dem Messgerät gemäß § 31 Abs. 2 Ziffer 4 MessEG.
OLG Karlsruhe vom 12.01.2018 – 2 Rb 8 Ss 839/17
Denn Ausfluss des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) ist es, dass dem Betroffenen auf seinen Antrag hin auch nicht bei den Akten befindliche amtliche Unterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, zur Verfügung zu stellen sind. Dazu gehört in Verkehrsordnungswidrigkeitensachen auch die Bedienungsanleitung des verwendeten Messgeräts (OLG Naumburg DAR 2013, 37; KG DAR 2013, 211; Cierniak/Neuhaus DAR 2014, 2, 4 f.; a.A. – nicht tragend – OLG Frankfurt NStZ-RR 2013, 223).
AG Zossen, Beschluss vom 31.01.2018 – 11 OWi 16/18
Dem Verteidiger ist die vollständige Meßdatei, soweit erforderlich samt Token und Paßwort, sowie die gesamte Meßreihe entsprechend § 46 OWiG i.V.m. § 147 StPO zur Verfügung zu stellen. Andernfalls würde das Recht auf rechtliches Gehör verletzt werden. Denn bei der vorliegenden Messung handelt es sich um ein standardisiertes Meßverfahren, so daß der Betroffene zur Verteidigung konkrete Einwendungen gegen die Messung vorzubringen hat. Hierzu ist er nur in der Lage, soweit eine Auswertung der Messung (ggf. durch einen von ihm beauftragten Sachverständigen) erfolgen kann. Hierfür muß ihm die gesamte Meßreihe vorliegen.
Es ist bislang nicht gerichtsbekannt geworden, daß jemals Bedenken aufgeworfen worden seien, der Staatsanwaltschaft vergleichbare Daten zur Verfügung zu stellen. Das Gericht geht auch davon aus, daß es selbst auf Anforderung die entsprechenden Unterlagen auch zur Verfügung gestellt bekäme. Weshalb diese zwar der Staatsanwaltschaft und dem Gericht, nicht aber der Verteidigung zur Verfügung stehen sollen, erschließt sich nicht.
Im übrigen muß es auch bei einem standardisierten Meßverfahren der Verteidigung ermöglicht werden, Fehler im Meßverfahren zu ermitteln und vorzutragen. Denn solange keine konkreten Einwände gegen die Messung und das Meßergebnis erhoben werden, besteht für das Gericht kein Anlaß, den Meßvorgang sachverständig überprüfen zu lassen (OLG Braunschweig, Beschluß vom 14. Juni 2017 – 1 Ss (OWi) 115/17 -, juris). Wenn aber der Verteidigung obliegt, konkrete Einwände gegen die Messung und das Meßergebnis zu erheben, muß ihr auch eine umfassende Überprüfung der Messung ermöglicht werden. Wie umfassend diese Überprüfung seitens der Verteidigung erfolgt, ist jedoch nicht durch das Gericht und die Bußgeldbehörde, sondern durch die Verteidigung selbst zu entscheiden.
AG Wittlich vom 13.03.2018 – 36b OWi 8143 Js 11489/17 (2)
Die Verwaltungsbehörde wird verpflichtet, der Verteidigerin
die digitalen Falldatensätze inklusive unverschlüsselter Rohmessdaten der gesamten Messserie,
sowie die Statistikdatei auf einem von ihr bereitgestellten Speichermedium,
alle Wartungs- und Instandsetzungsnachweise des Messgeräts Vitronic PoliScanSpeed M1,
alle Eichscheine des genannten Messgeräts seit der ersten Inbetriebnahme
zur Verfügung zu stellen.
Die Beweismittel sollen dem Gericht zwecks Weiterleitung an die Verteidigerin binnen 3 Wochen zur Verfügung gestellt werden.
Saarländisches Verfassungsgericht, Beschluss vom 27.04.2018, Lv 1/18
Aus den Gründen (schlagwortartig):
Die Nichtzugänglichmachung einer lesbaren Falldatei mit Token-Datei und Passwort sowie der Statistikdatei verletzen das Gebot eines fairen Verfahrens und das Gebot des rechtlichen Gehörs.
Liegen diese Daten im gerichtlichen Verfahren noch immer nicht vor, ist von dem jeweils Betroffenen oder seinem Verteidiger nach der Rechtsprechung des Saarländischen Oberlandesgerichts ein Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung bis zum Erhalt der Messdaten zu stellen.
Die digitale Messdatei ist Grundlage und originäres Beweismittel der Messung, daher ist sie – rechtzeitig vor dem Prozess – einem Betroffenen auf dessen Wunsch hin zugänglich zu machen.
Auf die Möglichkeit, Einsicht in die Daten in den Räumlichkeiten der Stadt Saarbrücken zu nehmen, kommt es bereits deshalb nicht an, weil dieses „Angebot“ erst nach dem Ergehen des – verfahrensfehlerhaften – erstinstanzlichen Urteils gemacht wurde. Dieses Angebot ist aber auch deshalb keine praktizierbare Alternative zur Herausgabe der Daten durch die Behörde – etwa durch Versenden der Daten per E-Mail -, weil der Sachverständige die Daten regelmäßig in der Form benötigt, dass sie ihm in seinem Büro zur Verfügung stehen. Weder sind in den Rechnern einer Ordnungsbehörde üblicherweise die Softwareprogramme zu finden, mit denen die Messdaten vollständig überprüft werden könnten, noch ein Sachverständiger an diesen Geräten sein Gutachten erstellen.
Auch die Statistikdatei enthält technische Informationen zur Messung, ist damit von potenziell be- oder entlastender Bedeutung für den Beschwerdeführer und hätte daher herausgegeben werden müssen. Unter anderem enthält sie Information über die Anzahl aufgezeichneter Verstöße im Messzeitraum, was auch Rückschlüsse auf die Sichtbarkeit der Lichtzeichenanlage und damit den Fahrlässigkeitsvorwurf zulassen kann, ferner die Annullationsrate, also Informationen darüber, wie viele Messungen die Anlage – womöglich aufgrund äußerer Einflüsse oder Störfaktoren – verworfen hat.
Es ist willkürlich und unfair und begründet einen Gehörsverstoß, wenn nach Nichtzugänglichmachung der Messdaten – in dieser Situation – der Beweisantrag auf Einholung eines technischen Gutachtens zur weiteren Überprüfung der Messung auf Fehlerhaftigkeit mit der Begründung abgelehnt wird, es liege ein standardisiertes Verfahren vor, und damit ausdrücklich oder stillschweigend dem Beschwerdeführer oder der Verteidigung vorgeworfen wird, es seien keine konkreten Anhaltspunkte für Messfehler dargelegt worden.
Ergänzender Hinweis:
Die Rüge der Nichtherausgabe der weiteren Fall Daten der Messreihe – also der Messdaten anderer Verkehrsteilnehmer – verfolgt der Beschwerdeführer nicht weiter.
KG Berlin, Beschluss vom 27.04.2018, 3 Ws (B) 133/18
1. Es gibt keinen Erfahrungssatz, dass ein standardisiertes Messverfahren stets zuverlässige Ergebnisse liefert.
2. Ein Betroffener hat Anspruch darauf, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden.
3. Ein Verteidiger kann, soweit dies zur Überprüfung des standardisierten Messverfahrens erforderlich ist, im Vorfeld der Hauptverhandlung grundsätzlich auch in solche Unterlagen Einsicht verlangen, die sich nicht bei den Akten befinden.
4. Einen Anspruch auf Erweiterung der Gerichtsakten vermittelt Art. 103 GG nicht.
LG Baden-Baden, Beschluss vom 14.09.2018, 2 Qs 104/18
Auf die Gegenvorstellung des Betroffenen wird der Beschluss der Kammer vom 10.09.2018 dahingehend abgeändert, dass die zuständige Verwaltungsbehörde angewiesen wird,
die Daten derjenigen Messreihe, die den laut Bußgeldbescheid begangenen Verkehrsverstoß des Betroffenen erfasst hat, – ggf. in anonymisierter Form – der Verteidigung zugänglich zu machen.
… nötigt die Kammer trotz der damit verbundenen Erschwernisse für das Verfahren, ihre Entscheidung abzuändern, da zu erwarten ist, dass das OLG Karlsruhe als zuständiges Rechtsbeschwerdegericht die genannte, explizit nur auf die Bedienungsanleitung eines Messgeräts bezogene Rechtsprechung angesichts deren allgemeiner Formulierung auch auf die Bereitstellung von Messdaten erstrecken wird. Dem Schutzinteresse der von der Messreihe erfassten anderen Verkehrsteilnehmer kann durch Anonymisierung ihrer Daten Rechnung getragen werden.
LG Hanau, Beschluss vom 07.01.2019, 4b Qs 114/18
Auf die Beschwerde des Betroffenen wird die Entscheidung des Amtsgerichts Hanau vom 05.12.2018 aufgehoben und das Regierungspräsidium Kassel, Bußgeldstelle, angewiesen, dem Verteidiger folgende Daten auf einen von ihm bereitgestellten Speichermedium zur Verfügung zu stellen:
Den digitalen Falldatensatz des Betroffenen mit Bildern und erkennbaren Bildrändern,
inklusive Rohmessdaten,
die vollständigen Falldatensätze der gesamten Messreihe,
die Token-Datei,
das Passwort,
die vollständige Statistikdatei
sowie – soweit vorhanden – die Geräteakte/Gerätestammakte zum Messgerät.
LG Dillenburg, Beschluss vom 26.11.2018, 3 OWI 2 Js 57859/18 (siehe auch zfs 2019, 234)
Einsichtnahme in die Falldatei muss auch durch Übersendung an den Betroffenen bzw. seinen Verteidiger realisiert werden.
Der Betroffene hat einen Anspruch, dass ihm “seine” Falldatei von der Bußgeldstelle zur Verfügung gestellt wird.
Schön zu lesen sind dann die wirklich mal kurzen Entscheidungsgründe:
… dass die vorgesehene Vorgehensweise für Betroffene und Verteidiger unpraktikabel ist und einen unzumutbaren Aufwand erfordert. Es sollte in Zeiten der Digitalisierung möglich sein, einen solch bescheidenen Datentransfer auf die eine oder andere Weise ohne körperliche Anwesenheit des Empfängers im Einklang mit datenschutzrechtlichen Anforderungen zu ermöglichen.
OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.07.2019 – 1 Rn10 Ss 291/19
1. Aus dem Gebot des fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK) folgt das Recht des Betroffenen, dass die Verwaltungsbehörde seinem Verteidiger oder einem von ihm beauftragten Sachverständigen nicht bei den Akten befindliche amtliche Messunterlagen zur Verfügung stellt, die erforderlich sind, um die „Parität des Wissens“ herzustellen und die dem Betroffenen ermöglichen, die Berechtigung des auf das Ergebnis eines (standardisierten) Messverfahrens gestützten Tatvorwurfs mit Hilfe eines Sachverständigen zu überprüfen.
2. Die Verteidigung des Betroffenen wird jedenfalls dann unzulässig beschränkt (§§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO), wenn dieser schon bei der Verwaltungsbehörde und sodann vor dem Amtsgericht im Verfahren nach § 62 OWiG erfolglos einen auf Herausgabe dieser Unterlagen gerichteten Antrag gestellt und sein erneuter, in der Hauptverhandlung mit einem Antrag auf Aussetzung des Verfahrens (§ 228 Abs. 1 S. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG) verbundener Antrag auf Einsichtnahme durch Beschluss des Gerichts zurückgewiesen wurde, sofern nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf der rechtsfehlerhaften Ablehnung seines Antrags beruht oder beruhen kann.
(Bestätigt durch OLG Karlsruhe mit Beschluss vom 27.09.2019, 1 Rb 10 Ss 531/19).
LG Köln, Beschluss vom 11.10.2019, 323 Qs 106/19
Im Bußgeldverfahren kann der Betroffene wegen der zu garantierenden „Parität des Wissens” bzw. der „Waffengleichheit” verlangen, Einsicht in sämtliche existenten, zur Überprüfung der Messung erforderlichen Messunterlagen zu nehmen, und zwar auch, soweit sich diese nicht in den Gerichtsakten, sondern in den Händen der Verwaltungsbehörde befinden.
Der Grundsatz des fairen Verfahrens und das hieraus folgende Gebot der Waffengleichheit erfordern, dass sowohl die Verfolgungsbehörde als auch die Verteidigung in gleicher Weise Teilnahme-, Informations- und Äußerungsrechte wahrnehmen können, um so Übergriffe der staatlichen Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können. Insofern kann sich hieraus ein Recht auf Einsicht in Akten oder Daten ergeben, welches über das Recht auf Einsicht in die dem Gericht vorliegenden Akten (§ 147 Abs. 1 StPO) hinausgeht (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19, juris, dort Tz. 24 f.; LG Kaiserslautern, Beschl. v. 22.05.2019 – 5 Qs 51/19, ZfSch 2019, 471, 472; jeweils m.w.N.).
Denn zum einen gibt es keinen Erfahrungssatz, dass ein standardisiertes Messverfahren unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefert (so schon BGH, Beschl. v. 19.08.1993 – 4 StR 627/92, juris, dort Tz. 28), und zum anderen hat der Betroffene einen Anspruch darauf, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19, juris, dort Tz. 28; KG Berlin, Beschl. v. 06.08.2018 – 3 Ws (B) 168/18, juris, dort Tz. 9). Bei einem standardisierten Messverfahren ist es dem Betroffen indes nur möglich, die Richtigkeit der Messung anzugreifen, wenn er im jeweiligen Verfahren konkrete Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit der Messung aufzeigen kann. Eine pauschale Behauptung, mit der die Richtigkeit der Messung angezweifelt wird, genügt nicht. Ein solcher dezidierter Vortrag ist dem Betroffenen jedoch nur dann möglich, wenn er – bzw. sein Verteidiger – auch Zugang zu den entsprechenden gesamten Messunterlagen des jeweiligen Messsystems hat und diese ggf. mit Hilfe eines Sachverständigen überprüfen kann (OLG Celle, Beschl. v. 16.06.2016 – 1 Ss (OWi) 96/16, juris, dort Tz. 5; LG Kaiserslautern, Beschl. v. 22.05.2019 – 5 Qs 51/19, ZfSch 2019, 471, 472; LG Trier, Beschl. v. 14.06.2017 – 1 Qs 46/17, juris, dort Tz. 40; ferner VGH Saarland, Beschl. v. 27.04.2018 – Lv 1/18, juris, dort Tz. 31 ff; jeweils m.w.N.).
Dabei ist es unerheblich, ob bereits konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen oder vom Betroffenen vorgetragen worden sind. Denn ohne umfassende Kenntnis der zur Überprüfung der Messung erforderlichen Messunterlagen, die den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, kann der Betroffene bzw. seine Verteidigung schon nicht verlässlich beurteilen, inwiefern zweckmäßigerweise Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen. Das Informations- und Einsichtsrecht des Verteidigers kann daher deutlich weiter gehen als die Amtsaufklärung des Gerichts (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19, juris, dort Tz. 27 f.; KG Berlin, Beschl. v. 06.08.2018 – 3 Ws (B) 168/18, juris, dort Tz. 9; LG Hanau, Beschl. v. 07.01.2019 – 4b Qs 114/18, juris, dort Tz. 18; a.A. OLG Oldenburg, Beschl. v. 23.07.2018 – 2 Ss OWi 197/18, juris, dort Tz. 24 ff.).
Anders als im Hinblick auf die Reichweite der gebotenen Amtsaufklärung ist es daher für das Einsichtsrecht des Verteidigers ohne Bedeutung, inwiefern das Gericht selbst es für ausgeschlossen hält, dass sich aus der Auswertung der Messdaten der gesamten Messreihe Entlastungsmomente für den Betroffenen ergeben. Eine konkrete Darlegung seitens des Betroffenen, welche Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit der Messung sich bei Einsichtnahme in die Messdaten möglicherweise ergeben könnten und welche Schlüsse hieraus zu ziehen wären, ist in diesem Zusammenhang nicht erforderlich.
Und dann noch zum oftmals erfolgten Abwehrversuch unter dem Deckmantel des Datenschutzes:
Auch datenschutzrechtliche Bedenken stehen der Einsichtnahme in die Falldatensätze nicht entgegen. Soweit mit der Zurverfügungstellung der gesamten Messserie ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer einhergeht, weil von diesen jeweils Foto und Kennzeichen übermittelt werden, überwiegt vorliegend das Interesse des Betroffenen an der Durchsetzung seines Anspruchs auf ein faires Verfahren. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass lediglich Foto und Kennzeichen, nicht aber die Fahrer- oder Halteranschrift der anderen Verkehrsteilnehmer übermittelt werden.
Und dann noch DANKE für das Vertrauen in die Anwaltschaft:
Zudem ist von einem Verteidiger als Organ der Rechtspflege auch zu erwarten, dass die ihm übermittelten Daten nicht an Dritte weitergegeben werden.
Und das Ergebnis:
Unter Zugrundelegung dieser Maßgaben hat der Betroffene einen Anspruch auf Einsicht in die digitalen Falldateien inkl. Rohmessdaten der kompletten Messreihe vom Tattag.
Quelle: BeckRS 2019, 26465, beck-online
OLG Zweibrücken vom 10.07.2020, 1 OWI 2 SsBs 51/20
(Erstmaliger) Antrag auf Akteneinsicht kurz vor Hauptverhandlung – Akteneinsicht in digitaler Form muss ermöglicht werden
… begegnet zwar die Versagung der Übersendung der in Papierform geführten (Original-)Akte an den Verteidiger keinen rechtlichen Bedenken. Im Hinblick auf den für den 16. Januar 2020 bestimmten Hauptverhandlungstermin wäre ein rechtzeitiger Aktenrücklauf selbst bei Versendung der Akte noch am 9. Januar 2020 (Eingang des ersten Akteneinsichtsgesuchs) nicht gewährleistet gewesen.
Dahinstehen kann, ob der Vorsitzende dem Akteneinsichtsgesuch aber nicht unmittelbar durch Übersendung einer Aktenkopie („Zweitakte“) hätte nachkommen müssen, ohne dies – wie geschehen – von einer entsprechenden Anforderung durch den Verteidiger abhängig zu machen.
Jedenfalls aber hätte der Vorsitzende im Rahmen seiner Ermessensentscheidung über die Form der Akteneinsichtsgewährung mit Blick auf die Bestimmung des § 32f Abs. 2 S. 2 StPO erwägen müssen, die in Papierform vorliegende Akte einscannen und auf elektronischem Wege, naheliegend im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs, zum Abruf durch den Verteidiger zur Verfügung stellen zu lassen. Dass der Vorsitzende diese Möglichkeit nicht erkennbar in den Blick genommen hat, war ermessensfehlerhaft. Wichtige Gründe, die der Bereitstellung einer Aktenkopie zum Abruf entgegenstanden haben, sind vom Vorsitzenden weder in seiner Verfügung niedergelegt, noch sind solche sonst ersichtlich. Die Feststellung, dass die Akte „hier nicht digital vorliegt“, stellt einen Grund für die Ablehnung einer elektronischen Übermittlung nicht dar. Das Einscannen einer Akte und die Fertigung einer elektronischen Kopie erfordert gegenüber dem Herstellen einer papierenen Kopie der Akte keinen höheren Aufwand. Dass dem Amtsgericht – unabhängig von seiner gesetzlichen Verpflichtung – eine Kommunikation im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs auch technisch möglich war, belegt bereits die auf diesem Wege erfolgte Übermittlung der Verfügung vom 9. Januar 2020.
AG Meißen, Beschluss vom 31.01.2020 – 16 OWi 738/19G
Digitale Fallsätze der gesamten Messreihe
Nur wenn dem Betroffenen die ganze Messreihe vorliegt, Ist er in der Lage eine Auswertung, ggf. unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen, der Messung vorzunehmen.
Datenschutzrechtliche Gründe sprechen nicht gegen eine solche Aushändigung.
Wartungs-, Reparatur- und Eichunterlagen seit der letzten Eichung
Unterlagen zum Konformitätsbewertungsverfahren
Verkehrsrechtliche Anordnung
Statistikdatei (txt-Datei)
Eine solche ist bei dem Gerät TraffiStar S350 vorhanden und enthält Informationen, wie die Entfernung zum Messbeginn, die Entfernung zum Messende, die Anzahl durchgefahrener Fahrzeuge, etc. Auf der Grundlage dieser Datei wird dem Verteidiger die Überprüfung ermöglicht, ob alle Messfotos tatsächlich vorliegen oder ob verschiedene Messungen gelöscht oder annulliert wurden. Dies gibt wiederum Hinweise auf die Fehlerträchtigkeit der Messung und ermöglicht damit eine Verteidigung des Betroffenen.
(ergangen zu TRAFFISTAR S350)
AG Mannheim, Beschluss vom 24.05.2021, 20 OWi 151/20
Die Multiplikatoren-Bescheinigung von POK … ,
der Beschilderungsplan für die Messstelle,
die vorhandenen Wartungsunterlagen,
die Baumusterprüf- und Konformitätsbescheinigung
sowie der hinsichtlich des Verstoßes bestehende Vorlagensatz
inklusive der Mitteilung, ob ein Select-Modul zum Einsatz kam
und die Verwendungsanzeige bei der zuständigen Landesbehörde,
sind durch das Regierungspräsidium zur Akte zu reichen. Dies gebietet das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren (BVerfG, Beschluss vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18).
Anmerkung: Die Herausgabe der gesamten Mess-Serie verweigert das AG Mannheim aber mit dem Verweis auf das “eigene” OLG Frankfurt am Main – Beschluss vom 26.08.2016 – 2 Ss-Owi 589/16.
Die Entscheidung ist ergangen zum Messverfahren VKS 4.5!
OLG Thüringen vom 17.03.2021 – 1 OLG 331 SsBs 23/20
Aus dem Recht auf faire Verfahrensgestaltung im Bußgeldverfahren ergibt sich grundsätzlich ein Anspruch des Betroffenen gegenüber der Bußgeldbehörde auf Zugang zu den bei ihr vorhandenen, nicht zur Akte gelangten Informationen, die aus Sicht des Betroffenen für die Beurteilung der Erfolgsaussichten seiner Verteidigung bedeutsam sein können.
Dies gilt regelmäßig auch im Hinblick auf die vom betreffenden Messgerät am Tattag generierte sog. “Messreihe“.
(ergangen zu POLISCAN M1 HP)
OLG Zweibrücken vom 27.04.2021, 1 OWI 2 SsRs 173/20
Einsicht in die “Lebensakte” (des Eichzeitraumes)
Der Anspruch auf ein faires Verfahren gem. Art. 6 Absatz 1 Satz1 MRK spricht dem Betroffenen das Recht zu, auf seinen Antrag hin auch nicht bei den Akten befindliche amtliche Unterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, durch die Verwaltungsbehörde zur Verfügung gestellt zu bekommen. Hierzu gehören bei Bußgeldverfahren wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes auch die für das Messgerät vorhandenen Wartungs- und Instandsetzungsnachweise im Eichzeitraum.
Aus den Gründen:
Um jedoch, wie gefordert, konkrete Anhaltspunkte vortragen zu können, muss der Betroffene die Möglichkeit haben, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlungen entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden (vgl. BVerfG, 2 BvR 1616/19, Rn. 51). … Die prozessualen Möglichkeiten des Betroffenen wurden somit vorliegend eingeschränkt, da erst durch Zugänglichmachung der begehrten Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen der Betroffene auch in der Lage gewesen wäre, Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Messgeräts zu erkennen und zu benennen. § 31 Abs. 2 Nr. 4 Mess- und Eichgesetz normiert eine Verpflichtung, Nachweise über Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe am Messgerät herzustellen und aufzubewahren. Unabhängig von der Frage, welche Bezeichnung diese Unterlagen haben (Lebensakte, Reparaturbuch, Gerätebuch oder Gerätebegleitkarte o.ä.) ist zu erwarten, dass entsprechende Vorgänge dokumentiert sind und jedenfalls in dem in § 31 Abs. 2 Nr. 4 Mess- und Eichgesetz angegebenen Mindestzeitraum aufbewahrt werden. Daher wäre das Amtsgericht angehalten gewesen, sich um die Herausgabe entsprechender Unterlagen, zumindest sich aber darum zu bemühen, eine Aussage darüber zu erhalten, ob Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen für das verwendete Messgerät vorliegen.
OLG Zweibrücken vom 04.05.2021, 1 OWI 2 SsRs 19/21
Liegt in der Verweigerung der Einsichtnahme in dritte Verkehrsteilnehmer betreffende Daten (“gesamte Messreihe“) auch dann ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens, wenn eine Relevanz der betreffenden Daten für die Beurteilung der Zuverlässigkeit des verfahrensgegenständlichen Messvorgangs und damit für die Verteidigung des Betroffenen nicht erkennbar ist?
OLG Stuttgart vom 03.08.2021, 4 Rb 12 Ss 1094/20
Einsichtsrecht in gesamte Messreihe
Aus den Gründen:
Der Betroffene ist durch die Vorenthaltung der mit seiner verfahrensgegenständlichen Messung in Zusammenhang stehenden Messreihe in seinem Recht auf eine faire Verfahrensgestaltung (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. mit Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt worden. Aus diesem Recht ergibt sich für den Betroffenen ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen zu dem ihn betreffenden Messvorgang.
Dabei kann der Betroffene eines Bußgeldverfahrens gegenüber der Verwaltungsbehörde auch ohne Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für Messfehler verlangen, Einsicht in bei ihr existierende weitere Unterlagen zur eigenen Überprüfung der Messung zu erhalten, da er ohne diese nicht beurteilen kann, ob ‒ gerade im standardisierten Messverfahren ‒ Beweisanträge zu stellen sind. Dass nach Auffassung der Physikalisch-Technischen-Prüfbehörde der Erkenntniswert durch die Statistikdatei, die gesamte Messreihe sowie die Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung gering sei, (vgl. https://www.ptb.de/cms/fileadmin/internet/fachabteilungen/abteilung_1/1.3_kinematik/1.31/downloads/PTB_Stellungnahme_Statistikdatei_DOI.pdf), trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu, da bestimmte Auffälligkeiten der Messungen für einen Betroffenen bzw. den von diesem beauftragten Sachverständigen nur bei Betrachtung aller Aufnahmen und Daten ermittelbar sind (vgl. Cierniak, ZfS 2012, 664, 772). Im Übrigen unterliegt es allein der Einschätzung des Betroffenen und seiner Verteidigung, ob bestimmte Informationen für seine Recherchen von Bedeutung sein könnten (Thüringer OLG, aaO Rn. 21). Erst nach deren Erlangung kann er entscheiden, ob er seinen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid aufrechterhalten und die weiteren Kosten und Gebühren des gerichtlichen Verfahrens einschließlich anwaltlichen Beistands auf sich nehmen will.
⇒ Und dann (endlich) das Bundesverfassungsgericht ⇒
Beschluss vom 12. November 2020, 2 BvR 1616/18:
Mit dem am 15.12.2020 veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die den Zugang des Betroffenen im Bußgeldverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung zu Informationen betrifft, die nicht Teil der Bußgeldakte waren. Der Beschwerdeführer begehrte zunächst im Rahmen des behördlichen Bußgeldverfahrens erfolglos Zugang zu Informationen, unter anderem der Lebensakte des verwendeten Messgeräts, dem Eichschein und den sogenannten Rohmessdaten, die sich nicht in der Bußgeldakte befanden. Der gegen den anschließend erlassenen Bußgeldbescheid eingelegte Einspruch blieb vor den Fachgerichten erfolglos. Der begehrte Zugang zu den Informationen wurde dem Beschwerdeführer auch von den Fachgerichten vor seiner Verurteilung nicht gewährt. Die Entscheidungen der Fachgerichte verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Zu den Erwägungen:
Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt grundsätzlich auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren das Recht, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden. Wenn der Betroffene Zugang zu Informationen begehrt, die sich außerhalb der Gerichtsakte befinden, um sich Gewissheit über seiner Entlastung dienende Tatsachen zu verschaffen, ist ihm dieser Zugang grundsätzlich zu gewähren. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen unbegrenzt gilt. Gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten ist in Hinblick auf die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten. Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen, um eine uferlose Ausforschung, erhebliche Verfahrensverzögerungen und Rechtsmissbrauch zu verhindern. Insofern ist maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen beziehungsweise seines Verteidigers abzustellen. Entscheidend ist, ob dieser eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf.
Durch die Gewährung eines solchen Informationszugangs wird der Rechtsprechung zu standardisierten Messverfahren nicht die Grundlage entzogen. Zwar steht dem Betroffenen ein Zugangsrecht vom Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens zu. Er kann sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen aber nur erfolgreich verteidigen, wenn er diesen rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt. Solange sich aus der Überprüfung der Informationen keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses ergeben, bleiben die Aufklärungs- und Feststellungspflichten der Fachgerichte nach den Grundsätzen des standardisierten Messverfahrens reduziert. Ermittelt der Betroffene indes konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses, hat das Gericht zu entscheiden, ob es sich – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – dennoch von dem Geschwindigkeitsverstoß überzeugen kann. Im Übrigen bleiben die Möglichkeiten zur Ablehnung von Beweisanträgen aus § 77 Abs. 2 OWiG unberührt.
Quelle: aus Pressemitteilung vom 15.12.2020
Volltext siehe → BVerfG vom 12.11.2020 / 2 BvR 1616/18
Und dann gleich noch einmal das Bundesverfassungsgericht
BVerfG, Beschluss vom 04.05.2021, 2 BvR 868/20
Versagung umfassender Akteneinsicht im Bußgeldverfahren verletzt Anspruch auf faires Verfahren
Das Urteil des Amtsgerichts und die Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts über die Rechtsbeschwerde verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Die Fachgerichte haben verkannt, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren für den Beschwerdeführer grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgen kann. Die generelle Versagung des Begehrens des Beschwerdeführers auf Informationszugang, welches dieser im fachgerichtlichen Verfahren hinreichend geltend gemacht hat, wird deshalb der aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Gewährleistung nicht gerecht.
Entgegen der Annahme der Fachgerichte handelt es sich hierbei auch nicht um eine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht, sondern der Verteidigungsmöglichkeiten des Betroffenen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, Rn. 47 ff.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 28. April 2021 – 2 BvR 1451/18 -, Rn. 5). Auf dieser Fehlannahme beruht die Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts. Es ist auch nicht auszuschließen, dass bereits die Verurteilung des Beschwerdeführers auf dem Verstoß des Amtsgerichts Rosenheim gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens beruht.
Quelle → VOLLTEXT BVerfG vom 04.05.2021 / 2 BvR 868/20
Und zur Vervollständigung (aber eher nur bedingt erhellend) die Entscheidung des BGH zur Divergenzvorlage des OLG Zweibrücken, Beschluss vom 04.05.2021, 1 OWi 2 SsRs 19/21)
BGH, Beschluss vom 30.03.2022, 4 StR 181/21
Unzulässigkeit der Divergenzvorlage des OLG Zweibrücken und Zurückverweisung an das OLG, weil die potentielle Beweisbedeutung der im Rahmen der Geschwindigkeitsmessung insgesamt angefallenen Messdaten eine tatsächliche Frage (Tatfrage) betrifft.
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 29.3.2023 – 1 ORbs 35 Ss 72/23
Anspruch auf Übersendung von Messunterlagen
Das Zugangsrecht erstreckt sich nicht lediglich auf Einsicht in die Unterlagen in den Räumen der Dienststelle des Messbeamten. Eine Reise dorthin nur zu dem Zweck, die gesamte Messreihe einzusehen, kann dem ortsfremden Verteidiger des Betroffenen, bzw. dem von diesem beauftragten Sachverständigen (vorliegend aus dem über 350 km und über vier Fahrstunden entfernten …), nicht zugemutet werden, da deren Anreise mit Mühen und Kosten verbunden ist, die außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache stehen (OLG Stuttgart, Beschluss vom 03.08.2021- 4 Rb 12 Ss 1094/20 –, juris unter Verweis auf BayObLG, NJW 1991, 1070 ff zur Einsichtnahme einer polizeilichen Videoaufzeichnung). Ein diesbezüglicher Informationszugang kann vielmehr von der Bußgeldbehörde z. B. durch Kopie der entsprechenden Daten auf einen von dem Betroffenen bzw. seiner Verteidigung zur Verfügung gestellten Datenträger – ohne größeren Aufwand zu verursachen – ermöglicht werden (OLG Stuttgart, aaO).
Weitere Gerichte “urteilen” in dieser Richtung (“pro”) … zu nennen wären hier … aber bitte immer die konkreten Gründe beachten:
AG Köln, Beschluss vom 09.01.2024 – 811 225/23 (b)
AG Dortmund, Beschl. v. 14.12.2023 – 729 OWi-260 Js 2315/23-135/23
AG Vechta, Beschluss vom 21.10.2022, 93 OWi 234/22 (Beschilderungsplan)
AG Bernkastel-Kues vom 03.03.2017, 8 OWi 21/17
AG Mainz, Beschluss vom 11.01.2018 – 409 OWi 34/18 (gesamte Messreihe)
AG Daun, Beschluss vom 04.04.2018 – 4 a OWI 29/18 (gesamte Messreihe)
LG Kaiserslautern, Beschluss vom 22.05.2019 – 5 Qs 51/19
AG Baden-Baden, Beschluss vom 02.10.2019, 14 OWI 264/19 (betrifft Abstandsmessung und Vorlage des unkomprimierten Originalvideos im Format WMV)
OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27.09.2019, 1 Rb 10 Ss 531/19
AG Gummersbach, Beschl. v. 20.11.2019, 85 OWI – 932 Js 9226/19 – 269/19
AG Leverkusen, Beschluss vom 08.02.2021, 55 OWI 120/21 (komplette Messreihe des Tattages)
AG Ratingen, Beschluss vom 08.04.2021, 22 OWI 46/21 (komplette Messreihe des Tattages)
AG Schleiden, Beschluss vom 03.03.2021, 13 OWI 19/21 (gesamte Messreihe bei Messungen mittels ESO ES 8.0)
AG Bad Kreuznach, Beschluss vom 26.07.2021 – 47 OWi 184/21 (VKS 3.0 = Originaldatei als DV-Band und Mitteilung, ob das Select-Modul bei der konkreten Messung verwendet wurde)
AG Ellwangen, Beschluss vom 14.01.2022, 6 OWi 3/22
II. Entscheidungen “kontra” Betroffenen
AG Stadtroda, Beschluss vom 07.08.2017 – 7 OWi 1367/17
Der Betroffene beanstandet, dass ihm im Vorverfahren bestimmte Unterlagen, namentlich die gesamte Messreihe, der Token und das Passwort, die Statistikdatei und die Lebensakte, nicht vorgelegt wurden. Diese Unterlagen sind bislang nicht Aktenbestandteil geworden, so dass sie im Wege der Akteneinsicht auch nicht zugänglich gemacht werden können. Das Recht zur Akteneinsicht begründet keinen Anspruch auf Erweiterung des Aktenbestandes (vgl. ThOLG, Beschluss vom 03.09.2007 – 1 Ws 337/07; ThOLG, Beschluss vom 20.02.2008 – 1 Ss 1/08). Insbesondere ergibt sich aus dem Recht auf Akteneinsicht kein Anspruch hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Akte.
AG Wittlich, Beschluss vom 16.03.2017 – 36 OWi 7/17
Wenn die Verteidigerin neben der Vorlage der digitalisierten Falldatei der konkreten Messung des Betroffenen auch noch die digitalisierte Falldatei der kompletten Messreihe begehrt, kann dem nicht gefolgt werden. Denn Beweismittel für den vorgeworfenen Verkehrsverstoß ist ausschließlich das Messbild des Betroffenen und dessen Messdaten und nicht die digitalisierte Falldatei der kompletten Messreihe (vgl. OLG Frankfurt, DAR 2016, 713; OLG Düsseldorf NZV 2016, 140). Die Verteidigerin der Betroffenen hat im Übrigen auch nicht auf das vorliegenden Verfahren ausreichend tatsachenfundiert vorgetragen, warum sie die gesamte Messreihe benötige und dabei in grundrechtlich geschützte Persönlichkeitsrechte Dritter eingreifen möchte (vgl. OLG Frankfurt, DAR 2016, 713).
Soweit die Bußgeldstelle die Vorlage einer „Geräte-/Lebensakte“ des Messgerätes und von Rechnungen, Wartungs-/Reparaturbelegen des Messgerätes, insbesondere seit der ersten Inbetriebnahme, zurückgewiesen hat, ist dies nicht zu beanstanden.
siehe aber, weil anders, AG Wittlich, Beschluss vom 13.03.2018 – 36b OWi 8143 Js 11489/17(2)
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.07.2015, IV-2 RBs 63/15
Weder aus § 147 StPO i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG noch aus dem Gebot des fairen Verfahrens ergibt sich gegenüber dem Gericht im Rahmen der Hauptverhandlung ein Recht des Betroffenen auf Einsicht in die bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Daten der Geschwindigkeitsmessungen des Tattages, die lediglich andere Verkehrsteilnehmer betreffen, und auf Überlassung der Daten zur eigenen Auswertung.
OLG Frankfurt, Beschl. v. 26.8.2016 – 2 Ss OWi 589/16
Zur Beiziehung der „kompletten Messreihe“
Auch dem Antrag auf Einsicht in die „komplette Messreihe“ muss das Gericht grundsätzlich nicht nachkommen.
Dabei gilt zunächst, dass die „Messreihe“ nicht Aktenbestandteil ist. Beweismittel für den Verkehrsverstoß ist ausschließlich das Messbild des Betroffenen mit den ihn betreffenden Messdaten in der ausgewerteten verbildlichten Form, wie es sich in der Gerichtsakte befindet (OLG Frankfurt a.?M., Beschl. v. 3.3.2016 – 2 Ss-OWi 1059/15= NStZ-RR 2016, 185; v. 28.4.2016 – 2 Ss-OWi 190/16 = NStZ-RR 2016, 322).
Da das in der Akte befindliche „Messbild“ als Beweismittel für den Verkehrsverstoß auf der digitalisierten „Falldatei“ beruht, hat der Betroffene selbstverständlich ein Einsichtsrecht in die „nur“ ihn betreffende digitalisierte Falldatei, auch wenn sie nicht gerichtlicher Aktenbestandteil ist. Das ist aber keine Frage der Akteneinsicht bei Gericht, sondern es handelt sich um ein im Vorfeld der Hauptverhandlung an die Verwaltungsbehörde zu richtendes Gesuch.
AG Trier, Beschluss vom 09.03.2017 – 35 OWi 967/16
Entgegen der bisherigen Auffassung des Gerichts besteht kein Anspruch auf Überlassung der vollständigen Messserie mit Fotos und digitalen Falldaten.
Der Anspruch folgt – in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Gerichts – weder aus § 147 StPO noch aus dem Gebot des fairen Verfahren. Die Messdaten des Tattages, die sich nicht auf den Betroffenen, sondern auf andere Verkehrsteilnehmer beziehen, sind nicht Teil der dem Gericht vorliegenden Akte. Bereits die den Betroffenen betreffende Messdatei ist als solche nicht Aktenbestandteil und muss auch nicht beigezogen werden.
OLG Oldenburg, Beschluss vom 23.07.2018, 2 Ss (OWi) 197/18
Keine Verletzung der Rechte des Betroffenen bei in der Hauptverhandlung abgelehntem Antrag auf Herausgabe der sich nicht bei der Akte befindlichen Messdatei (Anschluss an OLG Bamberg, 3 Ss OWi 626/18; entgegen VerfG Saarland, Lv 1/18)
AG St. Ingbert, Urteil vom 15.09.2022, 23 OWi 65 Js 667/22 (1278/22)
Wird von einem standardisierten Messverfahren ausgegangen, bedarf es der Hinzuziehung eines Beschilderungsplanes bzw. der verkehrsrechtlichen Anordnung nicht.
Für den Messwert einer konkreten Einzelmessung gibt es keinen Zusammenhang mit den Messergebnissen für Fahrzeuge, die in den Stunden davor oder danach erfasst wurden, sodass die Daten einer gesamten Messreihe ungeeignet sind zur Überprüfung der Einzelmessung.
Bei Messungen mit dem Messgerät PoliScan besteht kein Anspruch auf Überlassung des sog. Tokens.
(Quelle: FD-StrVR 2022, 452073 / beck-online)