“Halbe Vorfahrt” – was ist das denn nun wieder?
Die nicht unbedeutende “halbe Vorfahrt” findet sich insbesondere an Einmündungen und Kreuzungen, die nicht durch Verkehrszeichen geregelt sind, also im Prinzip die Kreuzungen mit “gleichrangigen Straßen”.
Typisch ist nun folgende Konstellation… ein Fahrzeug, welches wartepflichtig ist, nimmt einem von rechts kommenden Fahrzeug die Vorfahrt und es kommt zum Unfall. Alles klar, würde man sicherlich auf den ersten Blick sagen können und von einem klassischen Vorfahrtverstoß ausgehen.
Klassischer Vorfahrtsverstoß… naja, mit Abstrichen…
Allerdings muss beachtet werden, dass der an sich Vorfahrtberechtigte seinerseits nun möglicherweise anderen, nämlich für ihn von rechts kommenden Verkehrsteilnehmern Vorfahrt gewähren müsste. Hier spielt es dann aber keine Rolle, ob ein solches – wiederum für ihn vorfahrtberechtigtes – Fahrzeug tatsächlich vor Ort war. Es geht letztlich hier dann darum, ob aufgrund der eigenen Sichtbehinderung nach rechts der an sich Vorfahrtberechtigte seine Geschwindigkeit nicht auch entsprechend zu reduzieren habe. Kann er seinerseits nach rechts sehr gut die Örtlichkeit einsehen, darf er grundsätzlich ohne Geschwindigkeitsverringerung (natürlich soweit zulässig) weiterfahren. Ist die Sicht aber für ihn nach rechts eingeschränkt (durch z.B. abgestellte Fahrzeuge, Bepflanzungen, Mauern etc.), muss er mit der Geschwindigkeit entsprechend “herunter”. Macht er dies nicht, kann er nämlich – und das ist eben das Ergebnis der “halben Vorfahrt” – gegenüber dem an sich Wartepflichtigen mithaften, im Regelfall mit 25 %.
Wichtig in der Betrachtung ist letztlich, wie die Sichtverhältnisse für den erst einmal Vorfahrtberechtigten – aus seiner Sicht nach rechts (weil er nach dort wiederum wartepflichtig wäre) – sind.
Letztlich hört man häufig nun einmal von dem “Vorfahrtsverletzer”, dass der andere ja zu schnell in die Kreuzung gefahren war, und genau darum geht es hier auch.
Nun ist die Rechtsprechung hierzu weitgehend gesichert, zumal der Bundesgerichtshof schon 1977 die Grundsätze festgezurrt hat.
Und was sagt nun die Rechtsprechung?
BGH vom 21.06.1977 / VI ZR 97/76 (grundlegende Entscheidung):
Eine schlecht einsehbare Kreuzung, an der die Vorfahrt nicht besonders geregelt ist, ist stets eine unübersichtliche und gefährliche Straßenstelle, deren besonderen Bedingungen der Fahrzeugführer seine Fahrgeschwindigkeit anzupassen hat (§ 3 Abs.1 S.2 BGB). Demgegenüber gilt der Vertrauensgrundsatz, der es dem Vorfahrtberechtigten gestattet, mit der örtlich zulässigen Geschwindigkeit “auf Sicht” zu fahren, ohne auf die immer möglichen Verletzungen seiner Vorfahrt durch für ihn nicht sichtbare Wartepflichtige Bedacht zu nehmen (BGHZ VGS 14; 232 ff; stRspr), an derartigen Kreuzungen nicht uneingeschränkt.
Zwar braucht der “halb” Vorfahrtberechtigte nicht die ihm gegenüber Wartepflichtigen, von links kommenden Verkehrsteilnehmer zu beobachten, sondern kann sein Augenmerk bei Annäherung an die Kreuzung allein auf den ihm gegenüber bevorrechtigten Verkehr von rechts richten; kann er die für ihn von rechts einmündende Straße rechtzeitig und weit genug einsehen, so ist die Lage für ihn ähnlich übersichtlich, wie wenn er eine Vorfahrtstraße befährt, so daß er auf die Beachtung seines Vorfahrtrechtes ohne Verringerung der zulässigen Geschwindigkeit vertrauen kann (vgl. Senatsurteil vom 22. November 1960 – VI ZR 23/60 – a.a.O. und ständig).
Anders liegt es indessen,
wenn er seinerseits wegen der schlechten Einsehbarkeit der Kreuzung nach rechts nur langsam an sie heranfahren darf. An solchen Kreuzungen vertraut auch der jeweils von links kommende Verkehrsteilnehmer darauf, daß sich der ihm gegenüber Bevorrechtigte verkehrsgerecht verhält und mit mäßiger Geschwindigkeit fährt, die ihm die Beachtung seiner Verpflichtungen nach rechts (Abs. 2 Satz 1 des § 8 StVO) hin ermöglicht. Er wird sich in seiner Fahrweise darauf einstellen. Deshalb kann ihm auch nicht der Einwand versagt werden, der ihm gegenüber Vorfahrtberechtigte habe den Kreuzungszusammenstoß durch überhöhte Geschwindigkeit mitverschuldet. Im Ergebnis dient deshalb das Gebot, nur mit der einem Wartepflichtigen angepaßten Fahrgeschwindigkeit an die unübersichtliche Kreuzung heranzufahren, nicht nur dem Schutz des bevorrechtigten Verkehrs, sondern auch allgemein dem Zweck, Zusammenstöße an der gefährlichen Kreuzung zu verhindern, und schützt insoweit auch den Wartepflichtigen.
Das hat der Bundesgerichtshof schon zur Zeit der Geltung der früheren Verkehrsvorschriften ausgesprochen (BGHZ 9, 6, 13 [BGH 04.02.1953 – VI ZR 70/52] und BGHSt 17, 299, 301) [BGH 08.06.1962 – 4 StR 130/62]; für die StVO 1970 gilt nichts anderes. Doch soll erneut betont werden, daß dies nur für den hier vorliegenden Fall der sog. “halben Vorfahrt” an Kreuzungen gilt, die keine ausreichende Einsicht in die jeweils von rechts einmündende Straße erlauben.
LG Gießen, Urteil vom 22.03.1994, 1 S 613/94, u.a in SP 1995, 330:
Das Gebot, an eine nicht besonders geregelte Kreuzung nur nach den gegebenen Sichtverhältnissen heranzufahren, dient auch dem Schutz des von links kommenden Wartepflichtigen. Eine Verletzung begründet gegenüber dem Vorfahrtsverstoß eine Mithaftung von 25 %.
Die im Rahmen der Abwägung zur Bestimmung des Haftungsumfangs (§ 17 Abs. 1 StVG) vom Kläger zu vertretende Mitverursachung des Unfalls liegt in einer in hohem Maße fahrlässigen Überschreitung der nach den Sichtverhältnissen zulässigen Annäherungsgeschwindigkeit.
Ein Kraftfahrer, der bei nicht besonders geregelter Vorfahrt (§ 8 Abs. 1 S. 1 StVO) an eine schwer einsehbare Kreuzung heranfährt, hat seine Geschwindigkeit so weit zu verringern, dass er ihm gegenüber bevorrechtigte, von rechts kommende Fahrzeuge vorbeifahren lassen kann. Diese Pflicht hat auch Auswirkungen auf das Verhältnis des Kraftfahrers zu den von links kommenden Wartepflichtigen. Er verstößt mit einer zu schnellen Annäherung an die Kreuzung diesen gegenüber nämlich gegen § 3 Abs. 1 S. 2 und S. 3 StVO, der ganz allgemein den Zweck verfolgt, Zusammenstöße an gefährlichen und unübersichtlichen Straßenstellen, wie sie Kreuzungen ohne ausreichende Sicht auf die einmündenden Straßen immer darstellen, zu verhindern (BGH VersR 1977, 917; OLG Bremen VersR 1975, 285; OLG Nürnberg VersR 1975, 1147).
Das OLG Karlsruhe führt hierzu in seinem Urteil vom 22.11.1995 , 13 U 203/93 (u.a in DAR 1996, 56) hierzu deutlich aus:
Der mit einer Geschwindigkeit von 25 km/h ein eine unübersichtliche Kreuzung ohne spezielle Vorfahrtsregelung einfahrende Vorfahrtberechtigte haftet zu 25 % mit bei einer Kollision mit einem 30 km/h einhaltenden Wartepflichtigen (sog. halbe Vorfahrt).
Herauszustellen, weil die Rechtsprechung gut zusammenfassend, sei das
Urteil des Landgerichtes Saarbrücken vom 10.07.2009 / 13 S 154/09
mit folgenden “Leitsätzen”:
1)
Bei der sog. halben Vorfahrt darf der vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer zwar grundsätzlich darauf vertrauen, dass auch ein für ihn nicht sichtbarer Verkehrsteilnehmer sein Vorfahrtsrecht beachten werde.
Dies gilt jedoch an Kreuzungen mit nicht gesondert geregelter Vorfahrt nur unter der Voraussetzung, dass er die kreuzende Straße nach rechts zur Beurteilung seiner eigenen Wartepflicht gegenüber dem von dort kommenden Verkehr rechtzeitig und weit genug einsehen kann.
2)
Der sich von links nähernde Wartepflichtige darf seinerseits vertrauen, dass der ihm gegenüber Berechtigte selbst seiner Wartepflicht nachkommt, so dass bei einer Kollision zwischen beiden den Berechtigten eine Mithaftung treffen kann.
3)
Bei der sog. halben Vorfahrt ist der Wartepflichtige dafür darlegungs- und beweisbelastet, dass der Vorfahrtsberechtigte auf Grund der besonderen örtlichen Verkehrslage zur Zeit des Unfalls konkreten Anlass hatte, auf die Beachtung seiner Vorfahrt nicht mehr zu vertrauen und seine Geschwindigkeit bei Annäherung und Einfahrt in die Kreuzung entsprechend herabzusetzen.
4)
Eine höhere, evtl. auch alleinige Haftung des Wartepflichtigen kommt allerdings dann in Betracht, wenn der vom Vorfahrtberechtigten unter Beweisantritt geschilderte Unfallhergang zutrifft, dass der Wartepflichtige mit völlig unangemessener Geschwindigkeit in die Kreuzung gefahren sei, während der Vorfahrtberechtigte zunächst angehalten habe, um den von rechts kommenden Verkehr zu beobachten, und dann vorsichtig und langsam angefahren sei.
Bestätigt wird diese Rechtsprechung aktuell durch einen
Hinweisbeschluss des OLG Hamm vom 01.10.2015 / I-9 U 73/15,
aus dem wie folgt zitiert wird:
Ist die Vorfahrt an einer Kreuzung nicht besonders geregelt, so stellt sich für jeden Verkehrsteilnehmer, der sich dieser Kreuzung nähert, die Verkehrslage so dar, dass er zwar gegenüber dem von links kommenden vorfahrtsberechtigt, gegenüber Verkehrsteilnehmern von rechts aber wartepflichtig ist. Um deren Vorfahrt beachten zu können, muss er, wie § 8 Abs. 2 S. 1 StVO vorschreibt, mit mäßiger Geschwindigkeit an die Kreuzung heranfahren und sich darauf einstellen, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann. Diese mit „halber Vorfahrt“ bezeichnete Situation dient grunsätzlich auch dem Schutz des von links kommenden Wartepflichtigen (OLG Hamm, Urteil vom 06.05.2002, 13 U 221/01).
Urteil des KG Berlin vom 21.09.2016 / 29 U 45/15:
Dieser Grundsatz, dass der Wartepflichtige im Regelfall voll haftet, wird an Kreuzungen mit “rechts vor links” eingeschränkt. Der an sich Vorfahrtsberechtigte hat, weil er seinerseits den im Verhältnis zu ihm von rechts Kommenden Vorfahrt gewähren muss, sich der Kreuzung gemäß § 8 Abs.2 Satz 1 StVO ebenfalls mit mäßiger Geschwindigkeit zu nähern und sich darauf einzustellen, notfalls rechtzeitig anhalten zu können. Diese mit “halber Vorfahrt” bezeichnete Situation dient dem Schutz des von links kommenden Wartepflichtigen ebenfalls (zum Ganzen: Spelz, a. a. O., § 8 StVO, Rn. 62 m. w. N.).
Die unter dem Stichwort “Halbe-Vorfahrt” entwickelten Haftungsgrundsätze sind jedoch auf den Unfall vom 12. Dezember 2014 nicht anwendbar. Sie gelten nämlich nur für nach rechts schlecht einsehbare Kreuzungen. Wenn der “halb” Vorfahrtsberechtigte die für ihn von rechts einmündende Straße rechtzeitig und weit genug einsehen kann, ist die Lage für ihn ähnlich übersichtlich, wie wenn er eine Vorfahrtsstraße befährt. Er kann deswegen auf die Beachtung seines Vorfahrtsrechts ohne Verringerung der zulässigen Geschwindigkeit vertrauen (Spelz, a. a. O., § 8 StVO, Rn. 63 m. w. N.). An einer derartig gut einsehbaren Kreuzung geschah der streitgegenständliche Unfall.
Noch ein Hinweis:
Nun könnte durch den Vorfahrtberechtigten der Einwand kommen, dass von rechts für ihn gar kein Fahrzeug kommen kann, da es sich um eine Einbahnstraße handelt, die aus seiner Sicht von links nach rechts verläuft. Wie dieses richterlich zu bewerten ist, kann hier nicht abschließend beantwortet werden. Allerdings darf man in diesem Zusammenhang anmerken, dass z.B. Radfahrer eine Einbahnstraße auch in entgegengesetzter Fahrtrichtung befahren dürfen (wenn Ihnen dies durch entsprechende “Freigabe” per Beschilderung erlaubt ist). Da der Vorfahrtberechtigte aber gar nicht wissen kann, ob eine “Freigabe” für Radfahrer gegeben ist, kann er sich unserer Meinung nach auch nicht zwingend darauf verlassen, dass niemand kommen könne.
Fakt ist aber, dass diese “halbe Vorfahrt” dem an sich erst einmal Wartepflichtigen nur helfen kann, wenn der an sich für ihn Vorfahrtberechtigte auf eine Kreuzung zufährt, an der dieser eben schlecht und eingeschränkt nach rechts (ein)sehen kann.
Thema (wie immer): Der Einzelfall entscheidet (und auch die Beweislast)!
Allerdings ist die Bewertung immer eine Sache des Einzelfalls und eben der jeweiligen Konstellation und Örtlichkeit.
Sollte es zum Unfall kommen, ist zumindest anzuraten, ausreichend Fotos von der Stellung der Fahrzeuge und der Örtlichkeit zu machen. Gerade auch wenn sich im Einmündungsbereich abgeparkte Fahrzeuge und ähnliches (es können auch einmal Müllcontainer, Schilder, eine Wanderbaustelle usw. sein) befinden, sind solche “Dinge” oft das Zünglein an der Waage und “festzuhalten”. Wichtig ist nun einmal der Zeitpunkt des Unfalls und nicht, was möglicherweise sonst so üblicherweise an der Kreuzung los ist. Also dann bitte Fotos gleich an Ort und Stelle.